Donnerstag, 1. November 2007

Johann Sebastian Bach, seine Kantaten und sein Weihnachtsoratorium im Unterricht der Primarstufe christlicher Privatschulen

Johann Sebastian Bach, seine Kantaten und sein
Weihnachtsoratorium im Unterricht der Primarstufe
christlicher Privatschulen
Schriftliche Hausarbeit im Rahmen der Ersten Staatsprüfung
für das Lehramt für die Primarstufe
Dem Staatlichen Prüfungsamt
für Erste Staatsprüfungen für Lehrämter an Schulen
- Essen - Außenstelle Wuppertal -
vorgelegt von
Reinhard Gottheim
Bergische Universität - Gesamthochschule Wuppertal
September 1998
Themenstellerin:
Frau Prof. Dr. Brunhilde Sonntag
Fachbereich 5 - Musikpädagogik
2
INHALTSVERZEICHNIS
Vorwort ........................................................................................................... 4
1. Johann Sebastian Bach ............................................................................... 5
1.1 Ein „Kunsthandwerker" der Musik ....................................................... 5
1.2 Bach und die Symbolik ......................................................................... 8
1.3 Bach und die Rhetorik ......................................................................... 10
1.4 Bach und der Pietismus ....................................................................... 11
1.4.1 Die Herrnhuter Brüdergemeine .................................................... 14
1.5 Ekstatische Elemente in Bachs Musik ................................................ 15
1.6 Zeitlose Wahrheit ................................................................................ 17
2. Die Kantaten Johann Sebastian Bachs ..................................................... 19
2.1 Frühe Formen (1707 - 1712) ............................................................... 21
2.2 Die Weimarer Kantaten des Neueren Typus (1713 - 1716) ................ 26
2.3 Köthen (1717 - 1723) .......................................................................... 33
2.4 Der Leipziger Jahrgang I (1723 - 1724) .............................................. 34
2.5 Der Leipziger Jahrgang II (1724 - 1725) ............................................ 42
2.6 Der Leipziger Jahrgang III (1725 - 1727) ........................................... 52
2.7 Picander und sein Jahrgang (1728 - 1729) .......................................... 57
2.8 Die übrigen Kirchenkantaten .............................................................. 59
3. Das Weihnachtsoratorium Johann Sebastian Bachs ................................. 64
4. Christliche Pädagogik ............................................................................... 68
4.1 Pädagogische Situation ....................................................................... 68
4.1.1 Historische Einflüsse .................................................................... 68
4.1.1.1 Geistige Strömungen .............................................................. 68
4.1.1.2 Das Menschenbild der Aufklärung ......................................... 69
4.1.1.3 Pädagogik der „3. Aufklärung" .............................................. 70
4.1.2 Einflüsse der Moderne .................................................................. 70
4.1.2.1 Emanzipation und Selbstverwirklichung ................................ 71
4.1.2.2 Der „autonome Mensch": Mißverständnis von Freiheit ......... 71
4.1.2.3 Verlust der ethischen Werte und des Konsenses .................... 72
4.1.2.4 Wissenschaftsgläubigkeit und Ideologie ................................ 72
4.1.2.5 Identitätskrise und Konfliktdenken ........................................ 73
4.2 Christliche Erziehung .......................................................................... 74
4.2.1 Die Bibel als Grundlage ................................................................ 75
4.2.2 Das Menschenbild der Bibel ......................................................... 75
4.2.3 Erziehungsauftrag aus der Bibel ................................................... 77
4.2.4 Leitlinien christlicher Erziehung .................................................. 78
5. Christliche Privatschulen .......................................................................... 83
5.1 Historische Wurzeln ............................................................................ 83
5.1.1 Martin Luther (1483 – 1546) ........................................................ 83
5.1.2 August Hermann Francke (1663 – 1727) ..................................... 85
5.1.2.1 Die Entstehung der Franckeschen Stiftungen ......................... 85
5.1.2.2 Grundzüge der Pädagogik Franckes ....................................... 88
5.1.2.3 Franckes Menschenbild .......................................................... 88
5.1.2.4 Erziehungsmittel und –inhalte ................................................ 89
5.1.2.5 Der Unterricht ......................................................................... 90
5.1.2.6 Anforderungen an die Person des Lehrers .............................. 90
3
5.1.3 Johann Amos Comenius (1592 – 1670) ........................................ 92
5.1.4 Friedrich Wilhelm Dörpfeld (1824 – 1893) .................................. 95
5.2 Rahmen und Grundlagen einer christlichen Privatschule ................... 99
5.2.1 Der gesetzliche Rahmen ............................................................... 99
5.2.1.1 Das Grundgesetz ................................................................... 100
5.2.1.2 Landesverfassung von Nordrhein-Westfalen ....................... 101
5.2.1.3 Privatschulgesetz .................................................................. 101
5.2.1.4 Wahrnehmung staatsbürgerlicher Verantwortung ................ 102
5.2.2 Grundlagen .................................................................................. 103
5.2.2.1 Willigkeit der Betroffenen .................................................... 103
5.2.2.2 Eindeutiger Auftrag .............................................................. 104
5.2.2.3 Eindeutige Ausrichtung ........................................................ 105
5.2.2.4 Schule aus einem Guß .......................................................... 106
5.3 Christliche Erziehung in der Schule .................................................. 109
5.3.1 Der Erziehungsauftrag der Schule .............................................. 109
5.3.1.1 Erlösung und Erziehung in der Bibel ................................... 109
5.3.1.2 Primat der elterlichen Erziehung .......................................... 110
5.3.1.3 Mitverantwortung der christlichen Gemeinde ...................... 111
5.3.1.4 Schule als „Hilfsanstalt" des Elternhauses ........................... 112
5.3.1.5 Keine staatliche Bevormundung der Familie ....................... 113
5.3.2 Grundsätze christlicher Erziehung in der Schule ........................ 114
5.3.2.1 Vertrauen und Hoffnung, Liebe und Güte, Gerechtigkeit und
Barmherzigkeit erfahren ................................................................... 114
5.3.2.2 Vorbild des Erziehers ........................................................... 115
5.3.2.3 Ausstrahlung des Erziehers .................................................. 116
5.3.2.4 Bescheidenheit des Erziehers ............................................... 116
5.3.2.5 Autorität und Strafe .............................................................. 117
5.3.2.6 Gehorsam .............................................................................. 118
5.3.2.7 Lernen durch Tun ................................................................. 119
5.3.2.8 Kindsein – vollwertiges Menschsein .................................... 120
5.3.2.9 Schonraum für das Kind ....................................................... 120
5.3.2.10 Geistiges Ringen in den Auseinandersetzungen unserer Zeit
.......................................................................................................... 121
5.3.2.11 Enge Zusammenarbeit zwischen Elternhaus und Schule ... 122
5.3.2.12 Gemeinschaft erleben ......................................................... 123
5.3.2.13 Die Bedeutung des Gebets .................................................. 123
5.4 Arbeitsgemeinschaft Evangelischer Bekenntnisschulen ................... 124
5.5 Förderverein für christliche Schulen e.V. ......................................... 125
5.6 Zusammenfassung der Grundsätze christlicher Pädagogik ............... 127
6. Johann Sebastian Bach in der Grundschule ............................................ 128
7. Die Kantaten J. S. Bachs in der Grundschule ......................................... 148
8. Das Weihnachtsoratorium J. S. Bachs in der Grundschule .................... 164
Verzeichnis der zitierten und erwähnten Literatur ..................................... 180
Erklärung .................................................................................................... 185
4
Vorwort
Die ersten drei Kapitel dieser Examensarbeit sind inhaltlich dem
fachwissenschaftlichen Hintergrund des Lebens, der Kantaten und des
Weihnachtsoratoriums Johann Sebastian Bachs gewidmet. Sodann schließen
sich zwei Kapitel an, in denen Bezug genommen wird auf die christliche
Pädagogik und auf christliche Privatschulen. In den drei letzten Kapiteln
werden schließlich Unterrichtssequenzen vorgestellt, die den
fachwissenschaftlichen Hintergrund im Unterricht der Primarstufe an
christlichen Privatschulen transparent werden lassen; es geht hier nicht
darum, lückenlose Unterrichtsentwürfe vorzustellen, sondern einfach
Material vorzustellen, welches auf geschickte Weise im Unterricht
Anwendung finden kann.
Ziel dieser Examensarbeit ist es, aufzuzeigen, wie Musik, das Leben von
Johann Sebastian Bach und auch das Leben der angeführten Pädagogen, und
der Glaube an Jesus Christus verknüpft wird und schließlich im Unterricht
vermittelt werden kann.
Da die heutige Säkularisierung auch in den Schulen Einzug gehalten hat,
sollte diesem Phänomen entsprechend gegengesteuert werden, indem die
Schüler mit Musik konfrontiert werden, die eben nicht nur auf starkem
Rhythmus, Wiederholung und Monotonie basiert, sondern Abwechslung
bietet und vor allem auf Jesus Christus hinweist, denn er ist der Weg, die
Wahrheit und das Leben (siehe Johannes 14,6). Und dies beinhaltet gerade
die Musik von Johann Sebastian Bach.
Johann Sebastian Bach wurde durch die außerordentliche Gabe der Musik
von Gott gesegnet und zum Segen gesetzt für andere Menschen und
Generationen, die sich auf seine Musik einlassen und sich mit ihr intensiv
beschäftigen. Seine Kantaten und auch sein Weihnachtsoratorium spiegeln
Bachs intensiven Glauben und seine persönliche Beziehung zu Jesus
Christus wieder und es wäre schade diesen Reichtum den Kindern
vorzuenthalten.
5
1. Johann Sebastian Bach
Die Fülle ausgezeichneter Kirchenmusik des 17. und frühen 18.
Jahrhunderts findet ihre Vollendung im Werk Johann Sebastian Bachs. Ihm
gelang es in einzigartiger Weise, die unterschiedlichen Dimensionen der
Musik - ekstatische, symbolische und rhetorische Dimension - zu
verknüpfen.
Das Bemühen der evangelischen Kirche um einen eigenständigen
musikalischen Beitrag zum Gottesdienst einerseits und die sich
entwickelnden Möglichkeiten des Barockstils1 andererseits brachten Musik
von höchster Qualität hervor. Das Werk von Johann Pachelbel (bekannt ist
vor allem sein Kanon in D-Dur), von Johann Krieger, Franz Tunder,
Dietrich Buxtehude, seinem Schüler Nikolaus Bruhns, Johann Kuhnau,
Georg Philipp Telemann und anderen läßt die Vielfalt und Bedeutung der
Musik dieser besonderen Epoche der protestantischen Kirchenmusik
erkennen.
Am Ende dieser Ära und als ihr bedeutendster Vertreter steht Johann
Sebastian Bach (1685 - 1750), dessen Wirkung weit über seine eigene Zeit
hinaus geht. Bis in die Gegenwart hinein berufen sich Komponisten auf ihn.
Diese Anerkennung hat er nicht von Anfang an erfahren.
1.1 Ein „Kunsthandwerker" der Musik
Seine eigenen Zeitgenossen sahen Bach zunächst ganz anders. Als
Komponist war er nur in seiner näheren Umgebung bekannt, sonst kannte
man ihn eher als ausführenden Musiker. Als Organist hat er weithin
Bewunderung und Staunen ausgelöst. Zahlreiche Anekdoten schildern
1 Das Wort „Barock" leitet sich ab vom span. bzw. portugiesischen „barocco" für
„unregelmäßige, schiefe Perle" und meint - zunächst abwertend - Eigenschaften wie
seltsam, überladen, schwülstig, verschroben, übertrieben, extrem. Seit dem 20. Jahrhundert
Begriff für eine Stilepoche, in der Musik von etwa 1600 bis 1750, als deren Höhepunkt
Bach und Händel gelten. In der Barockmusik hat der ursprüngliche Wortsinn „verschroben"
seinen Sinn verloren. Wenn ihr auch eine besondere Vorliebe für das Prunk- und
Glanzvolle nachgesagt werden kann, so findet doch vor allem in der Musik Bachs eine
6
Reaktionen auf sein Spiel. So sollte Bach einmal in Kassel eine restaurierte
Orgel prüfen. Sein Orgelspiel beeindruckte den Erbprinzen von Hessen-
Kassel dermaßen, daß er dem Organisten einen sehr kostbaren Ring
überreichte. Der Zeitgenosse Konstantin Bellermann äußert sich über Bachs
virtuoses Orgelspiel in diesem Zusammenhang:
„Seine Füße flogen über die Pedale, als ob sie Schwingen hätten;
donnergleich brausten die mächtigen Klänge durch die Kirche [...]. Nun
bedenkt, wenn seine Füße ihm schon solch ein fürstliches Geschenk
eintrugen, welche Gabe hätte der Prinz ihm anbieten müssen, um seine
Hände würdig zu beloben?"2
In ganz Europa wußten Organisten Bachs Spiel und seine
Improvisationskunst zu würdigen. Sein kompositorisches Werk fand jedoch
nicht überall Anklang:
„Dieser große Mann würde die Bewunderung ganzer Nationen sein, wenn er
[...] nicht seinen Stücken durch ein schwülstiges und verworrenes Wesen
das Natürliche entzöge, und ihre Schönheit durch allzugroße Kunst
verdunkelte. Weil er nach seinen Fingern urteilt, so sind seine Stücke
überaus schwer zu spielen; denn er verlangt, die Sänger und
Instrumentalisten sollen durch ihre Kehle und Instrumente eben das machen,
was er auf dem Claviere spielen kann. Dieses aber ist unmöglich. Alle
Manieren, alle kleine Auszierungen, und alles, was man unter der Methode
zu spielen verstehet, druckt er mit eigentlichen Noten aus; und das entziehet
seinen Stücken nicht nur die Schönheit der Harmonie, sondern macht auch
den Gesang durchaus unvernehmlich. [...] man bewundert [...] die
beschwerliche Arbeit und eine ausnehmende Mühe, die doch vergebens
angewendet ist, weil sie wider die Natur streitet."3
Bach hatte zur Kirche als seinem Arbeitgeber nicht immer ein gutes
Verhältnis. Mit zwanzig Jahren erhielt er seine erste volle Organistenstelle
an der Neuen Kirche zu Arnstadt. 1706 wurde er von Mitgliedern des
Kirchenkonsistoriums zum ersten Mal gerügt, weil er 16 Wochen in Lübeck
Synthese von Homophonie und Polyphonie statt, das Phantastische wird mit Sinn für Maß
und Form verbunden.
2 Karl Geiringer, Johann Sebastian Bach, München 1971, S. 30.
3 Kritik an Bach von Johann Adolf Scheibe aus dem 6. Stück des „Critischen Musicus"
vom 14. Mai 1737, zitiert in: Karl Geiringer, Johann Sebastian Bach, München 1971, S. 99.
7
gewesen war (er hatte dort Dietrich Buxtehude besucht), während ihm nur
vier Wochen Urlaub genehmigt waren. Weiterhin heißt es:
„Halten Ihm vor, daß er bisher in dem Choral viele wunderliche variationes
gemachet, viele fremde Töne mit eingemischet, daß die Gemeinde drüber
confundiret worden."4
Und ein anderes Mal lautet der Vorwurf:
„[...] der Organist Bach hat ehemals viel zu lang gespielt, aber nachdem er
vom Superintendenten daraufhin vermahnt worden, fiel er sogleich in das
andere Extrem und spielte viel zu kurz."5
Wie jede Arbeit, so hat auch die eines angestellten Kirchenmusikers
unangenehme Seiten. So erscheint es nur allzu menschlich, daß Bach auch
mit seinen Vorgesetzten, mit der Obrigkeit aneinandergerät. Seine späteren
Dispute mit dem Stadtrat von Leipzig drehten sich ständig um finanzielle
Probleme und um mangelnde Unterstützung für seine Chöre und Musiker.
Bach sah sich selbst als einen Handwerker der Musik, der in einer langen
Familientradition steht. Seine Aufgabe sah er darin, Musik zur Ehre und
zum Ruhm Gottes zu schreiben und darin sein Bestes zu geben, freilich
erwartete er dafür einen angemessenen Lohn.
Bach unternahm, im Gegensatz zu Händel oder anderen großen Musikern
jener Zeit, keine weiten Reisen. Nur einmal erregte er die Aufmerksamkeit
des Adels: schon ein alter Mann, war er zu Gast am Hofe Friedrichs des
Großen in Potsdam. Auch veröffentlichte er wenig von seiner Musik. Bach
war deshalb hauptsächlich in seiner näheren Umgebung bekannt.
Wie mag er sich sein Leben und seine Möglichkeiten als Komponist
vorgestellt haben? Er würde seine Musik bei den Anlässen hören, für die er
sie geschrieben hatte; zu gegebener Zeit würde sie von der seines
Nachfolgers verdrängt werden. Mit dieser Kunstauffassung stand er eher
dem mittelalterlichen Lebensgefühl nahe.
Es wäre nun falsch anzunehmen, daß Bach, der sich nicht als Künstler,
sondern als schlichten Handwerker der Musik verstand, nun eine
wohlgemeinte, aber trockene phantasielose Musik geschaffen hätte. Ganz im
4 Zitiert ebd., S. 19.
5 Bach-Dokumente. 4 Bde., Leipzig-Kassel 1963 - 1979; Bd. 2, S. 19 f. Bd. 2 enthält
„fremdschriftliche und gedruckte Dokumente zur Lebensgeschichte J. S. Bachs".
8
Gegenteil: Es gehört zu Bachs besonderer Begabung, Altbekanntes und
Überliefertes mit neuem Leben zu füllen. Er kannte die neuen Stilrichtungen
der Musik, und er zögerte nicht, sich ihrer zu bedienen. Sein
außerordentliches Genie befähigte ihn, darin viel weiter zu gehen als seine
Zeitgenossen.
Die sechs Brandenburgischen Konzerte sind die unvergleichliche Summe
all dessen, was ein Komponist im Rahmen eines barocken Konzertes und
darüber hinaus schaffen kann. Bachs Einfallsreichtum, mit dem er auch an
die kleinste Aufgabe ging, stieß nicht gerade auf Verständnis bei denen, die
eine geradlinige eingängige Musik ohne viele Schnörkel und ohne allzu viel
intellektuelle oder emotionale Anforderung wünschten, besonders, wenn es
um geistliche Musik ging. Dies war unzweifelhaft auch eine Ursache dafür,
daß seine Passionen vielfach auf Ablehnung stießen.
1.2 Bach und die Symbolik
Die anhaltenden Spannungen zwischen Bach und seinen Dienstherren
erwecken den Eindruck, Bach sei enttäuscht gewesen über den Mangel an
Wertschätzung, die ihm als Künstler zugestanden hätte. Aber die wenigen
Worte zu diesem Thema, die von ihm überliefert sind, machen deutlich, daß
er seine künstlerische Motivation vorwiegend aus anderen Quellen bezog als
aus öffentlicher Anerkennung und angemessenem Gehalt. Zu Beginn seiner
Organistentätigkeit in Mühlhausen im Juni 1707 formuliert er als sein
eigentliches Ziel, „eine regulierte Kirchenmusik zu Gottes Ehren"6 zu
schaffen, d.h. gottesdienstliche Musik, die sich planmäßig über das ganze
Kirchenjahr erstreckt. Diesem Ziel scheint er in Mühlhausen nicht näher
gekommen zu sein. Sein Rücktrittsgesuch von der dortigen Stelle im Jahr
1708 nennt als einen Grund, der „Endzweck einer regulierten
Kirchenmusik" sei nicht erreicht worden.
In seiner Generalbaßlehre von 1738 nennt er Ziel und Sinn alles
musikalischen Schaffens:
9
„und soll [...] alle[r] Musik [...] Finis und Endursache anders nicht als nur
zur Ehre Gottes und Rekreation des Gemütes sein. Wo dieses nicht in acht
genommen wird, da ist keine eigentliche Musik, sondern ein teuflisches
Geplärr und Geleier."7
Als Lutheraner gibt Bach hier Luthers eigene Ansicht von der aufbauenden
Kraft der Musik wieder. Er trennt nicht zwischen geistlicher und weltlicher
Musik; denn die Musik spiegelt und verwendet ewige Naturgesetze und
steht damit im Dienst der Schöpfung Gottes: sie dient darin der Ehre Gottes
ebenso wie der Freude der Menschen. In diesem Sinne ging es Bach mit all
seinen musikalischen Werken um „Harmonie zur Ehre Gottes"; er schöpfte
dazu alle Möglichkeiten aus, die ihm sein künstlerisches Handwerkszeug
gab.
Seine Clavierübung, eine Sammlung von Stücken für Tasteninstrumente, ist
ein gutes Beispiel für eine äußerst überzeugende Musik unter einem nicht
leicht zugänglichen, gelehrten Äußeren. Der dritte Band der Clavierübung
besteht, wie das Titelblatt sagt,
„in verschiedenen Vorspielen über die Catechismus- und andere Gesänge,
vor die Orgel. Denen Liebhabern, und besonders denen Kennern von
dergleichen Arbeit, zur Gemüts Ergötzung verfertiget."8
Die einzelnen Stücke basieren auf traditionellen lutherischen, einige auf
gregorianischen Chorälen, und bilden einen Zyklus über die Themen des
Kirchenjahres. In Anlehnung an den Kleinen und Großen Katechismus
Luthers finden wir jede Melodie in zwei Ausführungen, eine in großem Satz
und die andere einfach und ohne Pedal.
In den drei großen Vertonungen des Kyrie - je eine Anrufung an Gott Vater,
Gott Sohn und Gott Heiligen Geist - begegnet uns die Symbolik der
Dreifaltigkeit. Ein Präludium am Anfang und eine Fuge am Ende
umschließen das Kyrie - beide Stücke in Es-Dur, mit drei b-Vorzeichen. Die
Fuge wiederum besteht aus drei Teilen mit drei Themen - zwei der drei
Teile im Dreiertakt. Diese musikalische Symbolik ist beeindruckend; der
6 Bach-Dokumente. 4 Bde., Leipzig-Kassel 1963 - 1979; Bd. 1, S. 19. Bd. 1 enthält
„Schriftstücke von der Hand J. S. Bachs".
7 Zitiert ebd., Bd. 2, S. 333 f.
8 Karl Geiringer, Johann Sebastian Bach, München 1971, S. 241.
10
Zuhörer braucht nur ein einfühlsames Ohr, um zu verstehen, daß sie weit
mehr sind als rein intellektuelle Spielerei.
Bachs Musik hat darüber hinaus ihre eigene tiefe Symbolik dort, wo er
polyphon schreibt, d.h. mehrere eigenständige Stimmen im Kontrapunkt
gegeneinander setzt.
Marco Pallis vergleicht die Verbindung dieser Stimmen mit menschlichen
Beziehungen:
„Wenn wir von der Welt sprechen, so sprechen wir von Gegensatz und
Widerspruch, denn die Verschiedenheit der einzelnen Menschen führt
zwangsläufig zu dieser Situation. [...] die Menschen können sich einander
nähern oder auseinanderlaufen oder, für einen kurzen Zeitraum, miteinander
gehen. [...] dies bringt die Menschen von Zeit zu Zeit in Kontakt oder sogar
in Kollision [...]. Was zeigt dieses Bild anderes als einen Kontrapunkt, der
durch sein ewiges Wechselspiel von Spannung und Entspannung die Einheit
ausdrückt, aus der alle Grundelemente entstanden sind und zu der sie sich
immer zurücksehnen [...]. Die Parallele mit der Musik ist offensichtlich, und
es ist dies, was der kontrapunktischen Musik ihre merkwürdige Macht
verleiht, mit der sie die Seele bewegt."9
Ist es abwegig zu vermuten, daß Bachs Musik deshalb so anspricht, weil sie
die horizontale Verschiedenheit im Verlauf der vielen einzelnen Stimmen in
eine vertikale Einheit (in die „wohlgeordnete Harmonie") bringt und damit
zum einen die Unbeständigkeit menschlicher Beziehungen symbolisiert,
zum anderen aber zugleich die Sehnsucht nach der Einheit des Reiches
Gottes?
1.3 Bach und die Rhetorik
Bachs Musik ist nicht nur reich an Symbolen, die vor allem intellektuell
wahrgenommen werden; sie spricht ebenso unmittelbar die Gefühle an. Wie
seine Zeitgenossen war auch Bach überzeugt, daß Musik die Zuhörer
bewegen kann. Sie kann nicht nur Schmerz und Freude, sondern auch Zorn,
11
Liebe, Eifersucht und Haß ausdrücken. Diese Gemütsregungen wurden
Affekte genannt. Ihnen wurden spezielle musikalische Ideen zugeordnet:
„Da z.E. die Freude durch Ausbreitung unserer Lebensgeister empfunden
wird, so folget vernünftiger und natürlicher Weise, daß ich diesen Affekt am
besten durch weite und erweiterte Intervalle ausdrücken könne.
Weiß man dagegen, daß die Traurigkeit eine Zusammenziehung solcher
subtilen Teile unsres Leibes ist, so stehet leicht zu ermessen, daß sich zu
dieser Leidenschaft die engen und engsten Klang-Stufen am füglichsten
schicken."10
Bach kannte und übernahm diese Theorien wie auch andere Musiker seiner
Zeit. Er setzte sie jedoch weit erfindungsreicher und interessanter um. Nicht
nur seine Gesangsarien versieht er, wie in der zeitgenössischen Oper üblich,
mit einer Begleitung, die genau die Affekte des Textes aufnimmt, d.h. die
mit den Worten beschriebenen Gemütszustände musikalisch umsetzt. Auch
Bachs rein instrumentale Choral-Bearbeitungen sind derart gestaltet, daß die
Hörer die ihnen wohlvertrauten Choraltexte in ergreifender Weise erleben -
dank einer genialen rein musikalischen Ausdeutung der Worte. Im
Präludium zu Durch Adams Fall ist ganz verderbt aus dem Orgelbüchlein
schreibt Bach zur Choralmelodie eine Baßstimme, die aus „schweren" und
dissonanten absteigenden Intervallen besteht. Diese Baßstimme stellt nicht
nur den Affekt der Verzweiflung dar; auch der Fall der Menschheit und die
daraus folgende Furcht finden lebhaften musikalischen Ausdruck.
1.4 Bach und der Pietismus
Bachs Schaffen blieb nicht unbeeinflußt von einer Auseinandersetzung, die
sich innerhalb der evangelischen Kirche seiner Zeit vollzog: der
aufbrechende Gegensatz zwischen der mittlerweile gewachsenen
lutherischen Orthodoxie und dem aufkommenden Pietismus. Die lutherische
Orthodoxie hatte in ihrem verstärkten Bemühen um die theologische
9 Marco Pallis, „The Metaphysics of Musical Polyphony", in: Studies in Comparative
Religion, Bd. 10, Nr. 2, S. 106.
10 Johann Mattheson, Der vollkommene Capellmeister, Hamburg 1739, S. 16, § 56 u. 57.
12
Formulierung der „reinen lutherischen Lehre" wenig Raum gelassen für die
persönliche Glaubenserfahrung, den schlicht gelebten Glauben und eine
individuelle Frömmigkeit - Elemente, die den emotionalen Bedürfnissen des
Menschen Rechnung trugen. So hat die Orthodoxie auch zu einer gewissen
Erstarrung des Luthertums beigetragen. Folgerichtig entstand nun während
des 17. Jahrhunderts eine innerkirchliche Gegenbewegung: Man betonte
stark die persönliche Frömmigkeit („praxis pietatis") des einzelnen; ein
bewußtes Gemeinschaftsleben diente der Unterstützung dieses Ziels.
Initiator dieses älteren Pietismus war Philipp Jakob Spener (1635 - 1705).
Spener war der Ansicht, das Kennzeichen eines Christen seien eine
geistliche Wiedergeburt und eine persönliche Glaubensbeziehung zu Jesus
Christus. Auch sollten die Geistlichen keine privilegierte Sonderstellung
einnehmen; das „Priestertum aller Gläubigen" wurde von ihm betont. In
Frankfurt und später auch in der Umgebung richtete Spener Treffen zum
Beten und Bibellesen ein. Diese Gruppen nannten sich Collegia pietatis,
Gemeinschaft der Frommen.
Diese Bewegung des Pietismus brachte der Kirche viele wichtige Impulse:
sie vermittelte einen neuen Sinn für das Priestertum aller Gläubigen, eine
neue Wertschätzung der Bibel, eine Sicht für die Bedürfnisse der Armen
und eine missionarische Begeisterung. Aber es gab auch weniger erfreuliche
Begleiterscheinungen: Mit seiner Ablehnung des orthodoxen Luthertums
wies der Pietismus auch manches Gute und Bewährte zurück. Dazu gehört
auch die teils ablehnende, teils indifferente Einstellung gegenüber den
schöpferischen Möglichkeiten des Menschen, vor allem in der Kunst. Luther
hatte diese uneingeschränkt als gute Gaben Gottes gesehen, die man
dankbar gebrauchen soll:
„Sondern ich wollt’ alle Künste, sonderlich die Musica, gerne sehen im
Dienste dessen, der sie gegeben und geschaffen hat."11
Diese Unbekümmertheit im Umgang mit natürlichen Schöpfungsgaben fand
im Pietismus kein starkes Echo. Nicht selten führte das Mißtrauen
gegenüber einem weltlichen Lebensstil - und dazu zählte gewiß die Kunst -
zu Versuchen, die Aktivitäten von Künstlern und Musikern einzuschränken.
11 Martin Luther, So spricht Dr. Martin Luther: Worte aus Luther’s Schriften, ausgewählt
und geordnet von Georg Buchwald, 4. Aufl., Berlin: Warneck, 1904, S. 176.
13
So mag es für Bachs Weggang aus Mühlhausen auch eine Rolle gespielt
haben, daß er bei seinem Vorgesetzten, dem pietistischen Superintendenten
Johan Adolf Frohne, nicht genug Unterstützung für sein künstlerisches
Schaffen fand.
Daß Bach dem Pietismus jedoch keineswegs ablehnend gegenüberstand,
lassen einige der Bücher vermuten, die in seinem Nachlaß gefunden wurden.
Im Verzeichnis der geistlichen Bücher sind u.a. die folgenden Bücher
genannt:
- Johann Jakob Rambach:
Betrachtung über die Tränen Jesu
- Heinrich Müller:
Göttliche Liebesflamme
Erquickstunden
- Johann Gerhard: Schola Pietatis
(Schule der Frömmigkeit), 5 Bände
- Erdmann Neumeister:
Der Tisch des Herrn
- Philipp Jakob Spener:
Eifer wider das Papsttum12
Die Auswahl der Texte, die Bach für seine Kompositionen wählte, ist ein
beredtes Zeugnis seiner tiefen persönlichen Frömmigkeit. Zahlreiche Texte
drücken - häufig durch ihre dialogische Form - die enge Glaubensbeziehung
des Christen zu Christus aus; Bach vertont nicht selten „Gespräche der Seele
mit Christus". Der gelegentlich gegen ihn erhobene Vorwurf, seine Musik
sei zu offen für weltliche Strömungen, läßt sich wohl kaum rechtfertigen,
wenn man Bachs eigenes Verständnis seiner Kunst berücksichtigt.
12 Die komplette Liste in Philipp Spitta, Johann Sebastian Bach. 2 Bde., Wiesbaden, 5.
Aufl. 1962 (Leipzig 1873 - 1880), Bd. 2, S. 956 - 978. Zur Frage nach Bachs Stellung zu
Orthodoxie und Pietismus ebd., Bd. 1, S. 358 ff.
Außerdem Ulrich Meyer, „Johann Sebastian Bachs theologische Äußerungen", in: Musik
und Kirche 47, 1977, S. 112 - 118.
14
1.4.1 Die Herrnhuter Brüdergemeine
Eine besondere Ausprägung erfuhr der Pietismus in der Nachfolge Philipp
Jakob Speners (1635 - 1705) in der Herrnhuter Brüdergemeine, die sich um
Speners Patensohn, den Reichsgrafen Nikolaus Ludwig von Zinzendorf
sammelte. Die Brüdergemeine hat ihre Wurzeln in der evangelischen Kirche
der Böhmischen Brüder, die 1457 aus der vorreformatorischen Bewegung
um Jan Hus entstanden war und sich in Böhmen und Mähren erhalten hatte.
Glaubensflüchtlinge aus Mähren hatten 1722 um Aufnahme auf Zinzendorfs
Ländereien im sächsischen Herrnhut gebeten.
Zinzendorf, selbst engagierter Vertreter pietistischer Frömmigkeit, hatte
schon um 1720 in Herrnhut sogenannte „Singstunden" eingerichtet. In
diesem Rahmen fand auch die Gesangstradition der mährischen Christen
Raum. Zinzendorf selbst beschreibt einen solchen Gottesdienst, in dessen
Mittelpunkt das Singen stand, in einem Brief an den König von Preußen:
„Der Kantor nimmt die Materie der Reden, die eben gehalten wurden, und
setzt unterm Singen aus 20, 30 Liedern ganze und halbe Verse zusammen,
welche die Materie ordentlich und deutlich vortragen; und darinnen ist
Kantor, Organist, Lehrer und Zuhörer so geübt, daß keines innehalten,
keiner ein Buch aufschlagen darf, welches sich ungesehen nicht
demonstrieren läßt. Mein Sohn von zehn Jahren kann, wenn er in den Haus-
Singstunden spielet, aus einer Melodie unbemerkt in die andere fallen, daß
es niemand weiß, ob die ganze Singstunde express so komposieret ist. Wie
das zugehet, weiß ich selbst nicht, weil kein Kind zum Auswendiglernen
angehalten wird. Zu den öffentlichen Betstunden aber lasse ich ein
gewöhnlich Lied erst vorsagen; nach der Rede aber, wenn ich keines im
Gesangbuch finde, das ich gern gesungen hätte, und die Materie meiner
Rede teils dem Auditorio nochmals einschärfen, teils dem Heilande
gebetsweise vortragen kann, so mache ich im Vorsagen ein neues Lied, von
dem ich vorher nichts gewußt habe, und das sobald wieder vergessen ist, als
es seinen Zweck erreichet [...]"13
In einem Zeitraum von 30 Jahren veröffentlichten die Herrnhuter einige
Tausend Choräle und Lieder; viele davon spontan entstanden. Die Qualität
15
vieler dieser Lieder entsprach ihrer häufig eher zufälligen Entstehung; sie
wurden bald wieder vergessen; andere hatten bleibenden Wert. Einige von
Zinzendorfs Liedern finden sich noch heute in evangelischen
Gesangbüchern (z.B. „Herz und Herz vereint zusammen", oder „Herr, dein
Wort, die edle Gabe").
Als später John Wesley während seiner Überfahrt nach Amerika mit einigen
Herrnhuter Brüdern zusammentraf, war er sehr beeindruckt von der
geistlichen Kraft ihrer Lieder. Die Begegnung überzeugte ihn vom Nutzen
und von der Wirksamkeit des Choral-Singens. Gemeinden der Herrnhuter
Brüder entstanden auch auf den Britischen Inseln und vor allem in der
Neuen Welt; ihr ständig erweitertes Repertoire an Liedern wurde dadurch in
vielen Sprachen bekannt.
1.5 Ekstatische Elemente in Bachs Musik
In der Geschichte des Christentums gab es immer wieder Stimmen, die vor
der ekstatischen Dimension der Musik warnten. Nicht nur bei den
Kirchenvätern findet sich ein Mißtrauen gegen die Macht der Musik, unter
Umgehung des Verstandes unmittelbare Reaktionen, wie z.B. Bewegung
oder Tanz, hervorzurufen. Dennoch: diese spontane, unkontrollierte
Auswirkung von Musik ist aus der Musikerfahrung der Völker nicht
wegzudenken. Das zeigen zahlreiche musikalische Traditionen auch in
anderen Kulturen.
Die hochartifizielle Musik des Barock mit ihren Fugen und figurierten
Bässen scheint allerdings für derartige ekstatische Reaktionen nicht viel
Anlaß zu geben. Aber Wilfried Mellers, ein Bachexperte des 20.
Jahrhunderts, sieht eine Besonderheit von Bachs geistlicher Musik gerade
darin, daß sie diese ekstatische Dimension aufweist:
„Wenn es je eine Verherrlichung des Tanzes gab, so liegt sie hier vor. Und
das trotz der Tatsache, daß der Protestantismus, weit rigoroser als der
Katholizismus, den Tanz aus dem Gottesdienst verbannt hat, entsprechend
13 Zitiert in: Martin Rößler, Liedermacher im Gesangbuch. Bd. 2, Stuttgart 1990, S. 197 f.
16
seiner ablehnenden Einstellung zum Körperlichen. Welche dogmatische
Überzeugung Bach auch sonst vertreten haben mag - seine Musik jedenfalls
führt den Tanz als ‘ein Spiel von sichtbar gemachten Kräften’ (Langer)
wieder ein [...]. In diesem Sinne ist Tanzen ein geistlicher Vorgang, und
Bachs Blut, Nerven und Muskeln waren in diesem Punkt ‘klüger’ als seine
Kirche. [...]
Um das Cum Sancto Spiritu und viele vergleichbare Stellen in Bachs Musik
richtig wiederzugeben, müssen wir lernen, so mit dem Rhythmus dieser
Musik zu schwingen, wie es die Schwarzen Nord- und Südamerikas in ihren
Gottesdiensten tun, wenn sie Gospelsongs singen und tanzen. Es ist
bemerkenswert, daß Gesner, der Rektor der Thomasschule, der Bach des
öfteren im Zusammenhang mit der Ausführung seiner Amtspflichten
kritisierte, über eine von Bach gehaltene Probe sagte: ‘[...] wenn du Bach
sehen könntest, [...] wie der Rhythmus ihm in allen Gliedern sitzt [...]. Ich
glaube, daß mein Freund Bach [...] viele Männer wie Orpheus [...] in sich
schließt!’
[...] Für die, die offene Ohren und bewegliche Glieder haben, für die ist
Bachs Gloria ein viel mächtiger Anreiz als alles, was uns diese übersättigte
Welt sonst bieten kann."14
Die Bezüge zwischen moderner christlicher Musik und der Barockmusik
sind vielfältig. Vor allem ist hier die Vorliebe für streng „pulsierende"
Musik zu nennen. Bachs Musik ist von einer fortlaufenden gleichmäßigen
Baßstimme durchzogen, die eine eigene Melodie hat und nicht nur die
Akkorde stützt.
Bachs Interesse an der Musik von Antonio Vivaldi und Arcangelo Corelli
verstärkte zweifellos diese Eigenschaft. Für die Darstellung von Emotionen
in der Musik nach der Affektenlehre bot sich ein solch pulsierender Baß an,
der den Affekt oder die Stimmung des Stückes konstant hielt.15
Diese Technik ist verwandt mit dem Jazz. Hier haben Kontrabaß oder
Baßgitarre eine entsprechende Funktion. Beide, Barockmusik und Jazz,
haben wesentliche Wurzeln im Tanz, der im Europa des 18. Jahrhunderts
14 Wilfried Mellers, Bach and the Dance of God, London 1980, S. 209 - 210.
15 Der Beginn des „Magnificat" oder das Adagio aus der Orchestersuite Nr. 3 („Air auf der
G-Saite" genannt) sind nur zwei Beispiele von vielen.
17
eine große Rolle spielte - in der Taverne wie im Theater, in den bürgerlichen
Hallen wie in den Palästen der Adligen.
Kunstmusik - also Musik für eine gesonderte Aufführung - war aber nicht
etwa strikt abgesetzt von Tanzmusik. Im Gegenteil: viele Tanzsuiten (nicht
zuletzt von Bach) wurden für Cembalo, für Streicher und für Orchester
geschrieben.
Zwischen 1717 und 1723 war Bach Kapellmeister am Hof des Fürsten
Leopold von Anhalt-Köthen. Das Fürstenhaus war reformiert; Bach hatte in
dieser Stelle keine kirchenmusikalischen Verpflichtungen wahrzunehmen.
So widmete er sich in dieser Zeit vor allem der Instrumentalmusik. Es
entstanden große Sammlungen von Tanzsätzen (Allemandes, Sarabandes,
Gigues, Minuets) und zahlreiche andere Stücke, die ihrem Wesen nach auch
Tänze waren.
Als Bach wieder zur Komposition von Kirchenmusik zurückkehrte,
verwendete er in seinen Kantaten ohne Bedenken auch Elemente der in
diesen Jahren komponierten Instrumentalmusik. Das Tänzerische, das in den
Kompositionen präsent war, die Bach zur höfischen Unterhaltung schrieb,
findet auch in seinem kirchenmusikalischen Werk einen Platz.
1.6 Zeitlose Wahrheit
Die Musik Johann Sebastian Bachs findet bei fast jedem, der sie hört,
Resonanz. Diese Wirkung mag sich daher erklären, daß Bachs Musik alle
Aspekte musikalischer Erfahrung enthält und den Hörer auf allen Ebenen
anspricht - auf der symbolischen, der rhetorischen und der ekstatischen,
physisch mitreißenden Ebene. Wer in irgendeiner Weise sensibel ist für
Musik, den wird Bachs Musik nicht unberührt lassen. Sie ist interessant für
den gelegentlichen Zuhörer, dem es um einen unmittelbaren musikalischen
Genuß geht. Aber sie eröffnet auch demjenigen unermeßliche Tiefen, der
ihre Symbolik intensiver betrachten möchte.
Musikalischer Geschmack ändert sich mit der Zeit. Aber Bachs Musik
umfaßt ein so breites Spektrum an Ausdrucksmöglichkeiten, daß sie
18
unbeschadet der Geschmackswechsel immer wieder Zuhörer anspricht, ganz
gleich mit welchen Erwartungen sie sich der Musik nähern. Die Schönheit
der Bach’schen Musik besteht darin, daß sie Grund-Erfahrungen des
Menschen zum Inhalt hat, „ewige Wahrheiten": die geschaffene Ordnung
und die menschlichen Beziehungen, die Vollkommenheit des Universums
und das ganze Spektrum dessen, was Menschen an Freude und Leid
erfahren.
Natürlich war Bach in mancher Hinsicht auch ein typischer Vertreter seiner
Generation: so trifft manches, was wir über ihn gesagt haben, auch auf
andere Komponisten seiner Zeit zu. Aber es scheint bezeichnend, daß die
meisten seiner komponierenden Zeitgenossen, die nach breiterer
musikalischer und künstlerischer Anerkennung strebten, den Schwerpunkt
ihres Schaffens nicht auf die geistliche Musik legten. Georg Philipp
Telemann (1681 - 1767) war berühmter für seine vierzig Opern als für seine
Kirchenmusik, obwohl er jahrelang Kirchenmusikdirektor in Hamburg war.
Auch Georg Friedrich Händel (1685 - 1759), der ebenfalls zeitweilig in
Hamburg wirkte, verdankte seinen persönlichen und finanziellen Erfolg der
weltlichen Musik, hauptsächlich der Oper.
Bach war vielleicht der letzte große Musiker, der seinen Lebensunterhalt
fast vollständig durch Komposition von Kirchenmusik verdiente. Seit seiner
Zeit hat sich die Situation von Musikern in vergleichbaren Positionen
deutlich verändert. Die evangelische Kirchenmusik erfuhr zum Ende des 18.
Jahrhunderts einen traurigen Niedergang; erst im 20. Jahrhundert erwachte
ein neues Interesse an ihrem barocken Erbe.
19
2. Die Kantaten Johann Sebastian Bachs
An keiner anderen Stelle drückt sich Bachs persönliche
Glaubensüberzeugung so deutlich aus wie in seinen Kantaten-
Kompositionen. Der Begriff Kantate wurde in der evangelischen
Kirchenmusik zuerst von dem Theologen und Dichter Erdmann Neumeister
(1672 - 1756) verwendet. Viele Kantaten Bachs gehen auf Texte von
Neumeister zurück. Diese Cantata, so sagt Neumeister, „siehet [...] nicht
anders aus, als ein Stück aus einer Opera von Stylo Recitativo und Arien
zusammengesetzt"16.
Neumeister erläutert, wie er zu seiner besonderen Art der Dichtung kam, im
Vorwort zu einer Sammlung von Kantatentexten für alle Sonn- und
Feiertage des Kirchenjahres:
„Wenn nun die ordentliche Amtsarbeit des Sonntags verrichtet, versuche ich
das vornehmste dessen, was in der Predigt abgehandelt worden, zu meiner
Privatandacht in eine gebundene Rede zu setzen."17
Er schrieb seine Texte im Hinblick auf eine Vertonung; möglicherweise
unter dem Einfluß von Johann Krieger (1649 - 1725), der sie auch zuerst
kompositorisch umsetzte. Die Kirchen-Kantate hatte im Gottesdienst ihren
Platz zwischen der Lesung des Evangeliums und der Predigt. Ihre Aufgabe
war es, mit musikalischen Mitteln die Botschaft der Wortverkündigung zu
unterstreichen.
Die neuen musikalischen Mittel, wie sie in der Oper besonders ausgeprägt
waren, eigneten sich gut, um auch dem geistlichen Inhalt der Texte
angemessenen Ausdruck zu geben. Kirche ist aber kein Theater, es verbot
sich daher, die Kantaten im Gottesdienst zu inszenieren, aber die
Kantatenmusik allein war ausdrucksstark genug. Ein zeitgenössischer
Komponist vermerkt:
„Diese [...] Kantaten haben die früheren Kirchenlieder vollständig ersetzt.
Ihr Ursprung ist allerdings die Oper. Als ich merkte, wie schön diese
Mischung der verschiedenen Stile war, nämlich von Arie und Rezitativ, die
16 Erdmann Neumeister, Geistliche Cantaten: Über alle Sonn-, Fest- und Apostel-Tage,
Halle, 1705.
17 Erdmann Neumeister, Geistliche Cantaten: Über alle Sonn-, Fest- und Apostel-Tage,
Halle, 1705.
20
in einem Moment fröhlich sind, im nächsten traurig, in einem Moment in
dieser Stimmung, im nächsten in jener, ließ ich die alte Form der Ode mit
ihren vielen Strophen hinter mir [...] und wandte mich einer Dichtung zu,
die Rezitative und Arien verbindet."18
Die Kantaten unterschieden sich von der älteren evangelischen
Kirchenmusik darin, daß sie als Textgrundlage nicht mehr ausschließlich
biblische Texte verwenden, wie es z.B. bei den Werken von Heinrich Schütz
der Fall ist. Dieser Schritt über das Wort der Bibel hinaus wurde von
manchem als ein Schritt in eine falsche Richtung betrachtet. Aber die Art,
wie Bach Kantatentexte vertont, ist so unvergleichlich und überzeugend,
daß seine Musik als Ausdruck der christlichen Botschaft unerreicht bleibt.
Bach verwendete bekannte Texte und die bekannten Melodien der
Kirchenlieder. So machte er es der Gemeinde leicht, die Kantate als
Bestandteil des Gottesdienstes zu akzeptieren.19
In die Kantaten investierte Bach mehr Schaffenskraft als in irgendeine
andere Musik. Er schrieb fünf Jahreszyklen mit je einer Kantate für jeden
Sonn- und Feiertag. Von diesen ca. 300 Kantaten kennen wir heute noch
rund 200. Sie sind ein einzigartiges Vermächtnis geistlicher Musik.
Geschaffen unter den Voraussetzungen eines orthodoxen Luthertums, sind
sie dennoch Ausdruck eines sehr persönlichen Glaubens und einer
beeindruckenden Erlösungsgewißheit nach dem Empfinden des 18.
Jahrhunderts.20
18 Reinhard Keiser „Gemütsergötzung", Hamburg, 1698, zitiert in: H. E. Samuel „The
Cantata in Nuremberg", Michigan, 1982, S. 72.
19 In welchem Ausmaß die Gemeinde an den Chorälen von Bachs Passionen teilnahm, d.h.
sie mitsang, ist unbekannt.
20 Eine Einführung zu Bachs Kantaten findet sich bei Alfred Dürr, Die Kantaten von Johann
Sebastian Bach mit ihren Texten, Kassel 1995. Außerdem Werner Neumann, Handbuch der
Kantaten Johann Sebastian Bachs, Wiesbaden, 5. Aufl., 1984.
21
2.1 Frühe Formen (1707 - 1712)
Nach dem Zeugnis des „von Carl Philipp Emanuel Bach und Johann
Friedrich Agricola abgefaßte[n] Nekrolog[s]"21 hat Bach, wie oben schon
erwähnt, fünf Jahrgänge Kirchenkantaten für alle Sonn- und Feiertage des
Kirchenjahres geschrieben. Demzufolge müßte er nahezu 300 Kantaten
komponiert haben, von denen jedoch nur ungefähr 200 erhalten sind. „Für
diesen tragischen Verlust dürfte in erster Linie Bachs ältester Sohn Wilhelm
Friedemann verantwortlich zu machen sein. Nach Sebastians Tod wurden
die Kantatenjahrgänge zwischen den Familienmitgliedern in solcher Weise
aufgeteilt, daß - nach Forkels Angabe - Friedemann die größte Anzahl
erhielt. Es ist bekannt, daß dieser zunächst Handschriften seines Vaters
verschenkte und sie später, als er sich in Not befand, verkaufte. Emanuel
Bach scheint andererseits die ihm überlassenen Noten sorgfältig aufbewahrt
zu haben. Ein wertvoller Katalog seiner Bibliothek hat sich erhalten, da ein
Verzeichnis seines Nachlasses nach seinem Tod gedruckt wurde. Später
wurden die meisten Originalpartituren und Stimmen in der Berliner
Staatsbibliothek und in der Leipziger Thomasschule aufbewahrt. Ein Teil
der Berliner Bestände wurde nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges in
Marburg und Tübingen untergebracht, schließlich aber nach West-Berlin
überführt. Die Originalstimmen der Thomasschule befinden sich zur Zeit im
Leipziger Bach-Archiv."22
Nur etwa 40 Kantaten entstanden vor Bachs Amtsantritt in Leipzig, und eine
Anzahl davon wurde vom Thomaskantor neu bearbeitet. Es scheint, daß er
in Arnstadt keine Kantaten schrieb. BWV 15, „Denn du wirst meine Seele
nicht in der Hölle lassen", das man früher dem Jahre 1704 zuschrieb, wird
jetzt nicht mehr als echt angesehen, da es „in Wahrheit eine Komposition
Johann Ludwig Bachs"23 ist.
Wir wissen nicht, wie viele Kantaten in Mühlhausen entstanden sind. Die
früheste scheint BWV 131, „Aus der Tiefen rufe ich, Herr, zu dir", zu sein,
die nach dem Zeugnis des Autographs auf Veranlassung des befreundeten
21 Alfred Dürr, Die Kantaten von Johann Sebastian Bach mit ihren Texten, Kassel 1995,
Seite 26.
22 Karl Geiringer, Johann Sebastian Bach, München 1971, S. 136.
22
Pastors Georg C. Eilmar komponiert wurde. Zu dieser Gruppe gehört auch
die Kantate BWV 71, „Gott ist mein König", die am 4. Februar 1708 zur
Feier des Ratswechsels erklang, und vielleicht auch die Trauerkantate BWV
106, die Hochzeitskantate BWV 196 und die Osterkantate BWV 4.24 Diese
frühen Kantaten sind stark abhängig von der nord- und mitteldeutschen
Kantate der Zeit. In ihren Grundzügen stimmen sie mit Werken der älteren
Bache sowie Pachelbels, Böhms und Buxtehudes überein. Die Texte
beruhen fast ausschließlich auf der Bibel und Kirchenliedern. Auch die
Musik ist eher retrospektiven Charakters. Gewöhnlich ist die instrumentale
Sinfonia kurz und von den Vokalnummern scharf abgehoben. Letztere
haben meist eine symmetrische Anordnung. Am Anfang und am Schluß
finden sich Chornummern; sie umrahmen kurze, in Tempo, Rhythmus und
Zahl der verwendeten Stimmen kontrastierende Stücke, die häufig einander
ohne Pause folgen.
Das konzertierende Prinzip herrscht in den Chören vor, in denen
Vokalgruppen verschiedener Größe mit den Instrumenten wetteifern. Die
Grundlage der Arien stellt häufig ein Ostinato dar, eine ständig wiederholte
- wenngleich mitunter transponierte - Baßmelodie, auf der wechselnde
Oberstimmen aufgebaut sind. In diesen frühen Kantaten spielt das Arioso
eine bedeutende Rolle; es ist dies eine Art Rezitativ, das von Instrumenten
begleitet wird, die den Vokalteil mitunter durch selbständige Ritornelle
unterbrechen. Ein vom bezifferten Baß allein begleitetes, frei
deklamierendes „recitativo secco" ist in diesen Frühwerken nicht zu finden.
Der Text zu der Kantate BWV 131 „Aus der Tiefen rufe ich", die den
Gegensatz zwischen Sünde und Erlösung behandelt, beruht auf dem 130.
Psalm und zwei Strophen eines Kirchenliedes.25 In diesem Frühwerk
werden Koloraturen, die auf einer einzigen Silbe zu singen sind, häufig von
Pausen unterbrochen, ein Manierismus, der in den zeitgenössischen
Vokalwerken nicht selten ist, von Bach aber später vermieden wurde. Die
Vokalfuge am Schluß ist ausgesprochen instrumental gehalten; aus diesem
23 Zitierte Fußnote, in: Alfred Dürr, Die Kantaten von Johann Sebastian Bach mit ihren
Texten, Kassel 1995, S. 27.
24Vgl. ebd., S. 26 - 29.
25Vgl. ebd., S. 849 - 851.
23
Grunde fand sie - in einer Bearbeitung durch einen Bach-Schüler - sogar in
die Orgelwerke des Meisters Aufnahme (BWV 131a).
BWV 71, „Gott ist mein König", ist die einzige Bach-Kantate, die sich in
einem zeitgenössischen Druck erhalten hat.26 In diesem „Motetto", wie
Bach das Werk bezeichnete, wetteifern verschiedene Instrumentalgruppen -
ein Blechbläserchor mit Pauken; zwei Blockflöten und Violoncello; ein Trio
von Oboen und Fagott; Streicher und konzertierende Orgel - mit einer
größeren und einer kleineren Vokalgruppe. Der Glanz venezianischer
Tonkunst, wie er sich in Buxtehudes Werken spiegelt, scheint in dieser
Kantate aufzuleben. Das Duett Nr. 2, „Ich bin nun achtzig Jahr", überträgt
dem Sopran eine mit Verzierungen ausgestattete Choralmelodie, während
der Tenor und die obligate Orgel Gegenmelodien anstimmen. Das Ergebnis
ist eine Vokalform, die eine gewisse Ähnlichkeit mit einem Orgelpräludium
aufweist. Im Chor Nr. 6, „Du wollest dem Feinde nicht geben die Seele
deiner Turteltauben", schildert der Komponist mit Hilfe von Blockflöten,
Oboen und Streichern, die im tiefen Register und mit Trillern verwendet
werden, das Flattern und Gurren der Tauben. Die abschließende Fuge, „Muß
täglich von neuem", bewegt sich in allmählicher Steigerung zu einem
glanzvollen Höhepunkt mit Beteiligung aller Stimmen und Instrumente, ein
für die ungewöhnliche technische Meisterschaft des 23jährigen
Komponisten beredtes Zeugnis.
Eine der bedeutendsten frühen Kantaten ist BWV 106, „Gottes Zeit ist die
allerbeste Zeit", auch unter der Bezeichnung „Actus tragicus" bekannt.27
Der Text, der aus der Bibel und aus Kirchenliedern stammt, wurde
wahrscheinlich von Bach selbst - vielleicht mit Hilfe Pastor Eilmars -
zusammengestellt. Dieses „Deutsche Requiem" legt dar, daß der Fluch und
die Drohung des Todes, wie sie das Alte Testament auffaßt, durch
Eingreifen des Heilands in Hoffnung und Seligkeitsverkündung
umgewandelt wird. Die Kantate, welche weder Violinen noch Violen im
Orchester verwendet, beginnt mit einem instrumentalen Vorspiel für
Blockflöten, Gamben (Viole da gamba)28 und Continuo, das den Hörer in
26Vgl. ebd., S. 796 - 800.
27Vgl. ebd., S. 833 - 839.
28 Celloartige Streichinstrumente, meist in Tenor-Baßlage, mit 6 bis 7 Saiten in Terz- und
Quartstimmung, und leichtem, silbrigem Klang.
24
das Land der Seligen führt, wo es weder Sorge noch Schmerz gibt. Der erste
Chor fängt mit einer ausgesprochen volksliedhaften Melodie an, wie sie
Bach nur in seinen frühen Werken zu verwenden pflegte. Wunderbare kurze
Ariosi von Tenor und Baß leiten zum Herzstück, dem großen Chorsatz. In
einer mächtigen Fuge, die die Strenge des Gesetzes versinnbildlichen soll,
führen die drei tieferen Stimmen über einem altmodischen Fugenthema die
Worte aus Sirach, Kapitel 14 an: „Es ist der alte Bund: Mensch, du mußt
sterben." Wie eine Erlösung wirken die hellen Stimmen der Knabensoprane,
die mit dem Ausruf der Offenbarung Johannes unterbrechen: „Ja komm,
Herr Jesu, komm". Ihre Bitte wird immer dringlicher, und am Ende wird die
düstere Drohung völlig zum Schweigen gebracht, wenn die Soprane die
letzten Noten ohne jede Instrumentalbegleitung vortragen. Um den Sieg der
christlichen Lehre noch mehr zu betonen, läßt Bach die Blockflöten
gleichzeitig die Melodie des Chorals „Ich hab mein’ Sach’ Gott
heimgestellt" anstimmen. Es bedurfte der Worte des wohlbekannten
Kirchenliedes nicht, um der protestantischen Gemeinde den Sinn von Bachs
Botschaft zu vermitteln. In dem folgenden Duett zwischen Alt und Baß
glauben wir die Zwiesprache zwischen dem Schächer am Kreuz und dem
Erlöser zu vernehmen, der der armen Seele den Eintritt ins Paradies
verspricht. Den Abschluß bildet ein kraftvoller Choral und eine
schwungvolle Doppelfuge auf die Worte „Durch Jesum Christum, Amen".
Die Architektur dieser Kantate ist ebenso einfach und kraftvoll wie ihr
innerer Gehalt. In der Tonartenfolge zeigt sich deutlich die symmetrisch
chiastische Anlage:
F - d - g - c - B(g) - d - F.29
Die mächtige Kantate BWV 4, „Christ lag in Todesbanden", die vielleicht
zu dieser Zeit entstand, wurde von Bach für eine Leipziger Aufführung des
Jahres 1724 revidiert.30 Nur selten schuf er ein Werk, das sich so deutlich an
die Musik der Vergangenheit anlehnt und dabei doch fortschrittliche Züge
aufweist. Bach verzichtet auf textliche Zusätze aus dem 18. Jahrhundert und
29 Die Notierung der Blockflöten läßt erkennen, daß die übrigen Stimmen bei der
Aufführung einen Ton aufwärts transponiert werden müssen. Die Grundtonart der Kantate
ist F und nicht Es, wie gewöhnlich angenommen wird.
30Vgl. Alfred Dürr, Die Kantaten von Johann Sebastian Bach mit ihren Texten, Kassel
1995, S. 303 - 306.
25
baut das Werk ausschließlich auf Luthers kraftvoller Hymne auf. Die
Vertonung beruht auf einer Choralweise, die von einer Melodie des 12.
Jahrhunderts abgeleitet ist. „Christ lag in Todesbanden" besteht aus sieben
vokalen Abschnitten. In jedem wird eine Strophe des Lutherschen Textes
vertont, gleichzeitig stellen sie eine selbständige Variation der
Choralmelodie dar; selbst die einleitende instrumentale Sinfonia, die sich im
Stil an Buxtehude anschließt, verwendet das Kirchenlied. Die herben
modalen Harmonien und die verdoppelten Mittelstimmen der Violen
verstärken den archaischen Charakter des Werkes, das wie eine Reihe
vokaler Interpretationen von Orgelchorälen im Stile Böhms oder Pachelbels
wirkt. Andererseits aber weist die dominierende Stellung, die das
Kirchenlied innerhalb der Kantate einnimmt, auf die später in Leipzig
geschriebenen Choralkantaten Bachs hin.
Die Anlage der sieben Vokalnummern ist völlig symmetrisch:
1 2 3 4 5 6 7
Chor Duett Arie Chor Arie Duett Chor
In überwältigender Weise wird in diesem Werk kontrapunktische Kunst mit
Ausdruckskraft und barockem Symbolismus verquickt. Ein
bemerkenswertes Detail möge hier Erwähnung finden. Luthers Text
schildert den Kampf zwischen Leben und Tod, wobei „ein Tod den andern
fraß". Bach versinnbildlicht dies in dem Chor Nr. 4 in einer Art Kanon, in
dem die Stimmen in einen tödlichen Kampf verwickelt zu sein scheinen, bis
eine nach der anderen verschwindet.
„Bachs vor-Leipziger Kantatenschaffen läßt sich in drei Hauptphasen
einteilen: (I) Kompositionen der vor-Weimarer Jahre, (II) Weimarer
Kantaten und (III) in Köthen entstandene Werke. Die Grenzen bleiben
jedoch im einzelnen fließend, vor allem durch Neufassungen,
Veränderungen und Wiederaufführungen verschiedener Werke."31
31 Christoph Wolff (Hrsg.), Die Welt der Bach-Kantaten, Bd. 1. Johann Sebastian Bachs
Kirchenkantaten: Von Arnstadt bis in die Köthener Zeit, Stuttgart 1996, S. 19.
26
Vor-Weimarer Kantaten, ca. 1706 - 170832:
BWV Titel Bestimmung
Textzusammenstellungen aus Bibel, Gesangbuch und (geringfügig) freier
Dichtung
150 Nach dir, Herr, verlanget mich nicht überliefert33
196 Der Herr denket an uns Trauung
106 Gottes Zeit ist die allerbeste Zeit Trauerfeier
4 Christ lag in Todesbanden 1. Ostertag
131 Aus der Tiefen rufe ich nicht überliefert
71 Gott ist mein König Ratswahl
- [Kantate, BC B 2] Ratswahl
223 [Meine Seele soll Gott loben] nicht überliefert
[ ] Nicht oder nur teilweise erhalten
2.2 Die Weimarer Kantaten des Neueren Typus (1713 - 1716)
Während seines Aufenthaltes in Weimar schrieb Bach etwa zwei Dutzend
Kirchenkantaten, die in der Mehrzahl von seinen bisherigen Werken
grundsätzlich abweichen. Er wandte sich dem neuen Typus der Kantate zu,
auf deren textliche Grundlage Pastor Erdmann Neumeister entscheidenden
Einfluß genommen hatte. Das wichtigste Merkmal dieser Kantaten war, daß
sie - wie der Textdichter bemerkte - „nicht anders aussahen als ein Stück aus
einer Opera, von Stylo Recitativo und Arien zusammengesetzt". Neumeister
verwendete Paraphrasen von Bibelstellen und protestantischen Hymnen -
die sogenannten „madrigalischen Texte" - für die Seccorezitative und Dacapo-
Arien, die das Grundgerüst der Kantaten ausmachten. Das frühere
Arioso wurde dagegen nur selten gebraucht; die Chöre und Choräle sind an
32 ebd., S. 19.
33 Christoph Wolff verweist in der Fußnote auf S. 27 darauf, daß „der Textcharakter [...] auf
einen Bußgottesdienst [deutet]".
27
Zahl verringert und hauptsächlich an den Beginn und das Ende der Kantate
verlegt.34
Bach schrieb mehrere seiner Weimarer Kantaten zu Texten Neumeisters,
zog aber die ähnlich gehaltenen Dichtungen des Weimarischen
Konsistorialsekretärs Salomo Franck vor, da sie seiner eigenen Einstellung
näherkamen. Franck war weniger radikal als Neumeister und vermied das
neue Seccorezitativ. Vor allem aber zog Bach der mystische Einschlag der
Franckschen Texte mächtig an.35
Seine frühesten Weimarer Kantaten entstanden 1714. In diesem Jahr
vertonte er fünf Texte Francks (BWV 182, 12, 172, 21, 152), zwei von
Neumeister (BWV 18, 61) und zwei (BWV 54, 199) von C. Chr. Lehms.
Die Werke weisen in gewisser Hinsicht einen experimentellen Charakter
auf. Bach war offenbar bestrebt, neue Kunstmittel zu erproben; sein
Studium italienischer Formen, insbesondere der Vivaldischen Konzerte,
spiegelt sich sowohl im melodischen Charakter wie in der Struktur seiner
Arien.36
Die Kantate BWV 21, „Ich hatte viel Bekümmernis", wurde wohl zum
Abschied vor der Abreise des schwer kranken Prinzen Johann Ernst von
Weimar aufgeführt.37 Sie gehört zu den wenigen Bach-Werken, in denen
sich der Komponist mit seinem größten Zeitgenossen auf dem Gebiete der
Musik trifft. Bachs Schlußchor „Das Lamm, das erwürget ist" zeigt mit
seiner wirkungsvollen Verwendung der Trompeten die großartig-einfache
Alfresco-Technik Händels. Andererseits ist zu bemerken, daß der Anfang
des ein Vierteljahrhundert später geschriebenen Chors „Würdig ist das
Lamm" in Händels „Messias" eine gewisse Verwandtschaft mit diesem
Chore Bachs an den Tag legt. Die Sinfonia zum ersten Teil, mit ihren lang
ausgehaltenen dissonanten Akkorden und dem Aufschrei der Oboe im
vorletzten Takt, zählt zu den leidenschaftlichsten Instrumentalsätzen aus
Bachs Feder und schafft die richtige Vorbereitung für das Gefühl der
Trostlosigkeit, das am Beginn des ersten Chors zum Ausdruck kommt. Die
34Vgl. Alfred Dürr, Die Kantaten von Johann Sebastian Bach mit ihren Texten, Kassel
1995, S. 29 - 38.
35Vgl. ebd., S. 29 - 38.
36Vgl. ebd., S. 29 - 38.
37Vgl. ebd., S. 459 - 463.
28
drei Ausrufe „Ich, ich, ich" am Anfang der Nummer sind zur Zeit Bachs
unfreundlich kritisiert worden.38 Die Wiederholung des ersten Wortes eines
Werkes ist jedoch in der Musik des 17. Jahrhunderts häufig anzutreffen, und
Bach mag darauf zurückgekommen sein, um den subjektiven Charakter des
Werkes zu betonen. Noch altmodischer ist der zweite Chor mit seinen rasch
aufeinanderfolgenden Stimmungsgegensätzen und dem schnellen Wechsel
zwischen Solo und Tutti, rasch und langsam, forte und piano. Andererseits
aber zeigen die Solonummern, wieviel der Komponist von der
zeitgenössischen Oper gelernt hatte. So wirkt beispielsweise der Dialog
zwischen der Seele und Jesus wie ein richtiges Liebesduett, das eine
sinnliche Schönheit an den Tag legt, die manches Mitglied der Gemeinde
als unpassend empfunden haben mag.
Stücke dieser Art waren es, die die Klausel in Bachs Leipziger Vertrag
bewirkten, daß er Kompositionen zu schreiben hätte, die „nicht opernhaftig
herauskommen".
Die Neigung des Komponisten, in der Weimarer Periode neue künstlerische
Möglichkeiten zu erproben, zeigt sich in einem merkwürdigen Experiment,
das er in der Kantate BWV 61 „Nun komm der Heiden Heiland" machte.39
Das erste Stück dieses Werkes ist ein Choralchorsatz in der Form einer
französischen Ouvertüre. Er beginnt in dem traditionellen langsamen Tempo
und verwendet die punktierten Rhythmen der Lullyschen Ouvertüre, wozu
die Stimmen die zwei ersten Zeilen des Chorals „Nun komm, der Heiden
Heiland, der Jungfrauen Kind erkannt" anstimmen. Dann wechselt die
Taktart, und Bach schreibt das französische Wort „gai" als Tempo vor. Eine
schnelle heitere Fuge über die dritte Choralzeile „des sich wundert alle
Welt" bildet den Mittelteil, der zu dem langsamen Schlußteil auf die letzte
Zeile „Gott solch’ Geburt ihm bestellt" überführt. Dies ist eine erstaunliche
Leistung, die auch der reife Künstler in ähnlicher Form in den Kantaten
BWV 20, 97 und 119 wiederholte. Bemerkenswerte Beispiele von
Tonmalerei finden sich in dem Baßrezitativ „Siehe, ich stehe vor der Tür
und klopfe an" mit dem ständig pochenden Pizzicatomotiv und noch
38 So etwa von Mattheson in „Critica Musica", 1722 - 1725, II, S. 368.
39Vgl. Alfred Dürr, Die Kantaten von Johann Sebastian Bach mit ihren Texten, Kassel
1995, S. 102 - 104.
29
eindrucksvoller im Schlußchor, wo die emsigen Läufe der Geigen, die
aufsteigen bis zum g’’’ (einer nach damaligen Begriffen schwindelnd hohen
Note), ein Symbol für das himmlische Reich darstellen, von dem der
Heiland zu den Niederungen des Menschenlebens herabstieg.
Einheitlicher im Charakter als die Kantaten von 1714 sind die 1715 und
1716 entstandenen Kompositionen. In das Jahr 1715 fallen BWV 80a, 31,
165, 185, 161, 162, 163, 132 und vielleicht 72; in das Jahr 1716 BWV 155,
70a, 186a, 147a, und vielleicht 168 und 164. Sie alle verwenden Dichtungen
von Salomo Franck, und der textlichen Ähnlichkeit entspricht eine gewisse
Verwandtschaft der Kompositionen. Der eher dramatische Charakter der
vorhergehenden Werke weicht nun einer mehr besinnlichen Einstellung.
Direkte Zitate aus der Bibel sind hier nicht anzutreffen; sie werden durch
frei erfundene Rezitative ersetzt. Andererseits ist der „konzertierende"
Charakter der früheren Werke noch immer in einigen dieser Kantaten zu
beobachten. Als Schlußsatz erscheint gewöhnlich eine einfache
Choralharmonisierung.40
Dieser Jahrgang umfaßt einige der subjektivsten geistlichen Werke des
Komponisten. Nun nahm die Jesusminne, das glühende Sehnen nach
Befreiung von den irdischen Fesseln und die freudige Bereitschaft zum Tod
als Pforte zur himmlischen Seligkeit eine Ausdruckskraft an, wie sie in der
Musik der Zeit sonst nicht anzutreffen sind. Obwohl die neue Kantatenform
von orthodoxen, dem Pietismus kraftvoll entgegentretenden Geistlichen
ausgebildet worden war, lassen doch die von Bach gewählten Texte einen
gewissen mystischen Grundzug verspüren, der durch die Vertonung aufs
äußerste vertieft wird; die Kompositionen werden dadurch der
angefeindeten Lehre angenähert. Es mag jedoch bezweifelt werden, ob Bach
selbst sich dessen bewußt war.41
Ein gutes Beispiel liefert die Osterkantate BWV 31, „Der Himmel lacht, die
Erde jubilieret".42 Das Werk beginnt mit Jauchzen und Frohlocken, das
jedoch bald von Gedanken an Tod und Leiden abgelöst wird. Für den
Gläubigen der Zeit war die Realität der Auferstehung unlösbar verbunden
40Vgl. ebd., S. 29 - 38.
41Vgl. ebd., S. 29 - 38.
42Vgl. ebd., S. 308 - 311.
30
mit der physischen Vernichtung; für ihn war der Tod nichts Bedrohliches,
sondern ein vom Christen ersehntes Ziel. Daher ist es nicht die würdevolle
einleitende Sonate in Konzertform oder der Jubelchor des Anfangs, die den
Höhepunkt der Kantate bilden, sondern die der Schlußnummer
vorangehende Arie „Letzte Stunde, brich herein". Hier führt der Sopran mit
Oboe und Baß ein tanzartiges Trio von unsäglicher Süße aus, zu dem die
Violinen und Violen den Choral „Wenn mein Stündlein vorhanden ist"
hinzufügen. Der Choral wird dann vom ganzen Chor und Orchester
aufgenommen, wobei die Trompeten in das höchste Clarinregister (bis e’’’)
aufsteigen, und so verkündet der Komponist die Glorie und Seligkeit des
Todes, durch den die Seele zur Vereinigung mit Christus geführt wird.
Noch transzendenter im Charakter ist die Kantate BWV 161, „Komm, du
süße Todesstunde".43 Hier stellt der Todeschoral „Herzlich tut mich
verlangen nach einem seligen End" (der als Passionschoral in der
Matthäuspassion eine so wichtige Rolle spielen sollte) das Grundgerüst für
das Werk dar. In der ersten Arie für Alt, in der die schwerelosen Töne der
Blockflöten das Versprechen des ewigen Lebens auszusprechen scheinen,
stimmt die Orgel den Choral an, und am Schluß wird dieser vom ganzen
Chor aufgenommen zu Worten, welche Sehnsucht nach Auferstehung und
himmlischen Freuden zum Ausdruck bringen. Unter den übrigen Nummern
dieses Werkes befindet sich ein vom Orchester begleitetes Rezitativ (Nr. 4),
das eine ergreifende Schilderung von Schlaf und Erwachen gibt. In der
Gesangspartie werden die ekstatischen Textworte mit Sorgfalt ausgedeutet;
gleichzeitig stimmen die Blockflöten mit rasch wiederholten hohen Tönen,
die Streicher mit düsteren Pizzicatos und die Bläser mit majestätischen
Oktavsprüngen eine unheimliche, an Totenglocken gemahnende Weise an.
Die Kantate BWV 80a wurde in Leipzig umgearbeitet und stark erweitert.
Das gleiche gilt für die drei letzten Kantaten, die Bach in Weimar für
Advent 1716 schrieb (BWV 70a, 186a, 147a). Sie bestanden ursprünglich
aus je sechs Nummern, einem einleitenden Chor, vier Arien (ohne Rezitativ)
und einem Schlußchoral, wurden jedoch später in umfangreiche, zweiteilige
Werke verwandelt.
31
Weimarer Kantaten, 1708 - 171744:
BWV Titel Bestimmung
Texte aus S. Franck, Evangelisches Andachts-Opffer (Weimar 1715)
132 Bereitet die Wege, bereitet die Bahn 4. Advent
152 Tritt auf die Glaubensbahn S. n. Weihnachten
155 Mein Gott, wie lang, ach lange 2. S. n. Epiphanias
80a Alles, was von Gott geboren Oculi
31 Der Himmel lacht 1. Ostertag
165 O heiliges Geist- und Wasserbad Trinitatis
185 Barmherziges Herze der ewigen Liebe 4. S. n. Trinitatis
161 Komm, du süße Todesstunde 16. S. n. Trinitatis
162 Ach! ich sehe, jetzt 20. S. n. Trinitatis
163 Nur jedem das Seine 23. S. n. Trinitatis
Vermutlich ungedruckte Texte S. Francks
182 Himmelskönig sei willkommen Palmarum45
12 Weinen, Klagen, Sorgen, Zagen Jubilate
172 Erschallet ihr Lieder, erklinget, ihr Saiten 1. Pfingsttag
21 Ich hatte viel Bekümmernis 3. S. n. Trinitatis46;
„in ogni tempo"
- [Was ist, das wir Leben nennen, BC B 19] Trauergottesdienst
43Vgl. ebd., S. 604 - 607.
44 Christoph Wolff (Hrsg.), Die Welt der Bach-Kantaten, Bd. 1. Johann Sebastian Bachs
Kirchenkantaten: Von Arnstadt bis in die Köthener Zeit, Stuttgart 1996, S. 22/23.
45 Christoph Wolff verweist in der Fußnote auf S. 27 darauf, daß Palmarum „1714 mit dem
Fest Mariae Verkündigung (25. März)" zusammen[fällt]".
46 Christoph Wolff verweist in der Fußnote auf S. 27 darauf, daß es „nicht völlig
auszuschließen ist, daß zur Hallenser Organistenprobe die Kantate BWV 21 erklang. Aller
Wahrscheinlichkeit nach wurde BWV 21 auch 1720 von Bach zur Organistenprobe an St.
Jakobi in Hamburg aufgeführt."
32
BWV Titel Bestimmung
Texte aus S. Franck, Evangelische Sonn- und Festtags-Andachten (Weimar
1717)
70a Wachet! betet! betet! wachet! 2. Advent
186a Ärgre dich, o Seele, nicht 3. Advent
147a Herz und Mund und Tat und Leben 4. Advent
Texte aus E. Neumeister, Geistliches Singen und Spielen (Gotha 1711)
61 Nun komm, der Heiden Heiland 1. Advent
18 Gleichwie der Regen und Schnee Sexagesimae
Texte aus G. C. Lehms, Gottgefälliges Kirchen-Opffer (Darmstadt 1711)
54 Widerstehe doch der Sünde Oculi
199 Mein Herze schwimmt im Blut 11. S. n. Trinitatis
Ungedruckte Texte von J. M. Heineccius (?)
- [Kantate, Halle 1713] 47 Organistenprobe
63 Christen, ätzet diesen Tag 1. Weihnachtstag
[ ] Musik nicht erhalten
Christoph Wolff datiert die Entstehungszeit der Weimarer Kantaten etwas
anders als Alfred Dürr. Dies soll allerdings für die Betrachtung der Kantaten
unerheblich sein. Tabellarisch sollte eigentlich nur auf den Bestand der
Kantaten, die in Weimar komponiert worden sind, aufmerksam gemacht
werden. Nach Alfred Dürr sieht das folgendermaßen aus:
„1714: BWV 182, 12, 172, 21, 54, 199, 61, 152.
1715: BWV (18 ?), 80a, 31, 165, 185, 163, 132.
1716: BWV 155, 161 (?), 162 (?), 70a, 186a, 147a."48
33
„Bachs Weimarer Schaffen läßt demnach in textlicher Hinsicht folgende
Kantatentypen erkennen:
1. Den Übergangstypus Salomon Francks (ohne Rezitativdichtung):
BWV 182, 12, 172, 70a, 186a, 147a.
2. Den Typus der Neumeister-Jahrgänge 1 und 2 (Rezitative und Arien ohne
Bibelwort und Choral):
BWV 54, 152, verwandt auch 199.
3. Den Typus der Neumeister-Jahrgänge 3 und 4 (Rezitative und Arien mit
Bibelwort und Choral oder einem von beiden):
BWV 18, 21, 61, 80a, 31, 165, 185, 163, 132, 155, 161, 162."49
2.3 Köthen (1717 - 1723)
In Köthen war die Kirchenkantate für Bach von nur geringer Bedeutung.
Doch wurden einige dort komponierte weltliche Kantaten in Leipzig in
geistliche umgearbeitet und trugen auf diese Art zu der phantastisch reichen
Produktion bei, die der neue Director Musices in Leipzig hervorbrachte.50
Köthener Kantaten51:
BWV Titel Bestimmung
Texte unbekannter (Leipziger) Herkunft
22 Jesus nahm zu sich die Zwölfe Estomihi
23 Du wahrer Gott und Davids Sohn Estomihi
Nach Christoph Wolff „[gab es] am calvinistisch-reformierten Köthener Hof
[...] für den Kapellmeister keine Aufgaben für die gottesdienstliche Musik.
Auch besaß Bach von Amts wegen keine Verantwortung für die
47 identisch mit Fußnote 32
48 Alfred Dürr, Die Kantaten von Johann Sebastian Bach mit ihren Texten, Kassel 1995,
Seite 30.
49 ebd., S. 33.
50Vgl. ebd., S. 38 - 40.
34
Kirchenmusik der lutherischen Stadtkirche St. Agnes. Vokalkompositionen
beschränkten sich daher im wesentlichen auf regelmäßige Aufführungen
von Glückwunschkantaten, einerseits zum Geburtstag des Fürsten Leopold,
andererseits zum Neujahrstag. [...] Wenig mehr als zwei Jahre später folgte
Bach dann der Einladung zur Kantoratsprobe in Leipzig (Februar 1723) -
mit dem besonderen Privileg, zwei Kantaten - je eine vor und nach der
Predigt - darbieten zu können. Zu diesem Zweck brachte er ein fertig
komponiertes Werk (BWV 23) aus Köthen mit, das andere (BWV 22)
arbeitete er offenbar erst in Leipzig aus. Der solistische Zuschnitt von BWV
23 folgt deutlich dem Modell der Köthener Glückwunschkantaten. [...] In
der Aufführung am Sonntag Estomihi 1723 bekam man in Leipzig
wenigstens eine Kostprobe davon."52
2.4 Der Leipziger Jahrgang I (1723 - 1724)
Am 7. Februar 1723 führte Johann Sebastian Bach, wie oben schon erwähnt,
sein Probestück auf, die Kantate BWV 22. Seine Tätigkeit als
Thomaskantor begann erst am ersten Sonntag nach Trinitatis (30. Mai) mit
der Wiedergabe der Kantate BWV 75. Nun folgten innerhalb des ersten
Jahres (bis Trinitatis, 4. Juni 1724) in fast ununterbrochenem Fluß etwa
sechzig Kantaten. Für die meisten liegt die Originalpartitur oder der
Originalstimmensatz vor, da die Kantaten dieses Jahrgangs von C. P. E.
Bach aufbewahrt wurden. Nach Alfred Dürr umfaßt dieser erste Leipziger
Jahrgang wahrscheinlich die folgenden Werke, die hier nach der
Reihenfolge im Kirchenjahr angeführt werden:
„1723: BWV 75, 76, [...], 24, [...], 167, 147, 186, 136, 105, 46, 179, [...],
69a, 77, 25, 119, 138, 95, 148, 48, [...], 109, 89, [...], 194, 60, 90, 70, [...],
63, 40, 64.
51 Christoph Wolff (Hrsg.), Die Welt der Bach-Kantaten, Bd. 1. Johann Sebastian Bachs
Kirchenkantaten: Von Arnstadt bis in die Köthener Zeit, Stuttgart 1996, S. 25.
52 ebd., S. 25/27.
35
1724: BWV 190, 153, 65, 154, [...], 73, 81, 83, 144, 181, [...], 22, [...],
„Siehe, eine Jungfrau ist schwanger" (ohne BWV-Nr.), [...], 66, 134, 67,
104, [...], 166, 86, 37, 44, [...], 59 (?), 173, 184, 194, [...]."53
Wenn Bach in Köthen entstandene Werke verwendete (BWV 134, 173,
184), mußte er entscheidende Änderungen vornehmen, um ein weltliches
Werk in ein geistliches mit einem ganz anderen Text zu verwandeln.54 Doch
selbst die in Weimar entstandenen geistlichen Werke wurden umgestaltet;
sie wurden in andere Tonarten versetzt, die Instrumentation geändert und
neue Nummern hinzugefügt.55
Bach ließ sich von der ungeheuren Arbeitsmenge, die er auf sich genommen
hatte, nicht abschrecken. Der Jahrgang enthält eine Anzahl sehr langer
Kantaten in zwei Teilen, bisweilen mit zwölf bis vierzehn Sätzen (vgl.
BWV 75, 76, 194). Außerdem scheint er an gewissen hohen Festtagen zwei
Kantaten aufgeführt zu haben, die vor und nach der Predigt oder aber in
verschiedenen Kirchen erklangen. Am Ostersonntag begnügte er sich damit,
zwei früher komponierte Kantaten zu verwenden, da die Erstaufführung der
Johannespassion am Karfreitag viel Zeit und Arbeit beansprucht hatte.56
In steigendem Maße sah Bach nun in seinen Kantaten einen wichtigen
Beitrag zur Predigt. Sie wurden nach den rhetorischen Grundregeln
angelegt, und jeder Abschnitt trug dazu bei, die Ausdeutung des
Gotteswortes zu unterstützen. Walter Blankenburg bemerkt hierzu treffend:
„Mit dem Dictum, d.h. dem thematischen Text im Eingangschor, der
mehrfachen Folge von explicatio, d.h. von dessen Entfaltung in der Gestalt
des Rezitativs, und der applicatio, d.h. von dessen Anwendung auf das
christliche Leben in der Form der Arie, und schließlich in dem Schlußchoral
als Gemeindegebet bildet die Kantate in ihrer klassischen Leipziger Form
ein eigentümlich geformtes und gestaltetes Abbild der Predigt, der sie mit
den eigenständigen Mitteln der Dichtung und den für die verschiedenen
53 Alfred Dürr, Die Kantaten von Johann Sebastian Bach mit ihren Texten, Kassel 1995,
Seite 45.
54Vgl. ebd., S. 40 - 49.
55 Die Mühlhauser Kantaten wurden in der Regel nicht in Leipzig verwendet, da sie Bach
als zu altmodisch erschienen.
56Vgl. Alfred Dürr, Die Kantaten von Johann Sebastian Bach mit ihren Texten, Kassel
1995, S. 40 - 49.
36
Aufgaben der Verkündigung zugeordneten musikalischen Formen zur Seite
tritt."57
In den neu geschriebenen Kantaten des ersten Leipziger Jahrganges
verwendete Bach gerne Texte, die mit einem als Motto für das ganze Werk
dienenden Bibelzitat beginnen und mit einem Choral enden; der Rest
umfaßt frei erfundene Rezitative und Arien. Das Bibelzitat kann als Arie
vertont werden (siehe BWV 166, 86, 89); meist aber erscheint es als
mächtiger Chor (siehe BWV 136, 105, 46, 179, 69a, 25, 119, 148, 109, 40,
64, 190, 65, 144, 67, 104, 37, 44). In BWV 60 wird das Bibelmotto am
Anfang durch einen Choraltext mit dazugehöriger Melodie ersetzt, so daß in
diesem Werk Kirchenlieder am Anfang und am Ende auftreten. Einige
Kantaten enthalten auch Choralbearbeitungen an drei Stellen (siehe BWV
138, 48, 153, 75). Ein Werk wie die Kantate 181, die gar keinen Choral
verwendet, nimmt eine Ausnahmestellung ein.58
Die folgenden sechs Kantaten mögen als Beispiele für die 1723 bis 1724
komponierten Werke dienen.
Die von dem bedeutenden Dichter Johann Rist (1607 - 1667)
furchterregende Behandlung von Tod und Strafe, „O Ewigkeit, du
Donnerwort", scheint Bach besonders beeindruckt zu haben. Er verwendete
das Kirchenlied in zwei verschiedenen Kantaten, von denen die erste (BWV
60, 1723 entstanden) knapp und eher frei gestaltet ist, während die zweite
(BWV 20, 1724 entstanden)59 eine Choralkantate von mächtigen Ausmaßen
ist, deren zwei Teile und elf Sätze alle auf dem alten Kirchenlied beruhen.
Von den beiden Kompositionen wird das frühere Werk eher vorgezogen, da
es etwas abwechslungsreicher ist und Licht in die von Rist
heraufbeschworene Dunkelheit eindringen läßt. Die Kantate BWV 60, die
für den 24. Sonntag nach Trinitatis (7.11.1723) bestimmt war, hat die Form
eines Dialogs zwischen Furcht (Alt) und Hoffnung (Tenor).60
Zwiegespräche solcher Art zwischen biblischen Charakteren oder auch
abstrakten Ideen waren in der Kirchenmusik des 17. Jahrhunderts häufig,
57 Vgl. Walter Blankenburg, „Zwölf Jahre Bachforschung", AMl (= Acta Musicologica)
XXXVII (1965), S. 127.
58Vgl. Alfred Dürr, Die Kantaten von Johann Sebastian Bach mit ihren Texten, Kassel
1995, S. 40 - 49.
59Vgl. ebd., S. 440 - 442.
37
und Bach lockte es, mit dieser Form zu experimentieren. Im ersten Satz von
BWV 60 nimmt der Dialog den Charakter einer Choralbearbeitung an; der
Alt bringt den Text der ersten Ristschen Strophe mit der dazugehörigen
Melodie, während gleichzeitig der Tenor Worte eines unbekannten Autors
zu einer frei erfundenen Melodie anstimmt. Das aus Streichern, 2 Oboi
d’amore61 und Horn bestehende Orchester spiegelt die Gefühle beider.
Während das Horn nur die Funktion hat, den Cantus firmus zu stützen, sind
die „Liebesoboen" mit ihren sanft gleitenden Passagen die natürlichen
Gefährten der Hoffnung.
Die Streicher aber mit ihren schnellen Tonwiederholungen versinnbildlichen
Qual und Zittern als Begleiter der Furcht. Die Gegenüberstellung dieser
kontrastierenden Instrumentalgruppen bringt eine zu jener Zeit seltene
dramatische Wirkung hervor. Da sich im zweiten Duett die Furcht mehr und
mehr der Verzweiflung überläßt, bleibt der Hoffnung nichts übrig, als den
Kampf aufzugeben und ihn einer stärkeren Macht zu übertragen. Eine Baß-
Stimme, die wohl den Heiland darstellen soll, kündet nun die Botschaft der
Offenbarung „Selig sind die Toten, die in dem Herren sterben, von nun an".
Endlich ist die Furcht überzeugt, daß der Tod zum ewigen Leben führt. In
dem abschließenden Choral verwendete Bach statt Rists drohender Worte
den kraftvollen, doch tröstenden Text F. J. Burmeisters (1662) in der
ergreifenden Vertonung von J. G. Ahle. Der Choral „Es ist genug" mit
seiner ausdrucksstarken Verwendung der übermäßigen Quarte in den ersten
vier Noten dient als passender Abschluß dieser Darstellung von Schrecken
und göttlichem Trost. Es ist bemerkenswert, wie genau Bach den Gehalt des
Textes innerhalb des engen Rahmens einer einfachen Choralharmonisierung
auszudrücken vermag. In der Zeile „mein großer Jammer bleibt darnieden"
versinnbildlicht ein Oktavsprung im Alt das Wort „groß", die sich stürmisch
abwärts bewegenden Mittelstimmen der Kadenz das Wort „darnieden" und
die chromatisch absteigende Baßlinie das Wort „Jammer". Herbe
Dissonanzen und kühne harmonische Fortschreitungen werden verwendet,
60Vgl. ebd., S. 699 - 703.
61 Oboen mit einem birnenförmigen Schalltrichter, die um eine Terz tiefer als das
gewöhnliche Instrument gestimmt sind.
38
um ein Bild der Schrecken menschlicher Existenz und der überwältigenden
Sehnsucht nach Befreiung von irdischen Banden zu schaffen.
Die Kantaten BWV 105 und 46, für den 9. und 10. Sonntag nach Trinitatis
bestimmt, bringen eine ähnliche Botschaft. Sie behandeln neuerlich die
beiden Endpole christlichen Fühlens: Furcht vor Verdammnis und Hoffnung
auf himmlische Gnade. Doch ist die musikalische Behandlung in jedem
Werk eine andere. Der auf Psalm 143,2 beruhende monumentale
Eingangschor von BWV 105 „Herr, gehe nicht ins Gericht mit deinem
Knecht" beginnt mit einem g-Moll-Adagio, das mit melodischen und
harmonischen Mitteln und wuchtigen Bässen ein furchterregendes Bild von
Qual und Schuld vermittelt.62 Für den zweiten Teil des Satzes auf den Text:
„Denn vor dir wird kein Lebendiger gerecht" verwendet Bach eine lebhafte
Fuge, in der das Orchester die Vokalstimmen nur verdoppelt. So wird die
Form der alten Motette gebraucht, um zu betonen, daß seit undenklichen
Zeiten die Menschheit es unterließ, Gottes Gesetz zu befolgen. Ein
plötzliches piano und nachfolgendes pianissimo in dieser Fuge drückt
deutlich die Furcht der sündigen Menschheit aus. Die Beklemmung steigert
sich noch in der nächsten Arie, in der Bach den Generalbaß ausläßt, um
anzudeuten, daß der Sünder keinen festen Boden unter den Füßen hat.
Dieses Stück ist als Trio für Sopran, Oboe und Viola geschrieben, wobei
zwei Violinen die füllenden Mittelstimmen bilden. In der zweiten Hälfte der
Kantate wechselt die Stimmung. Ein Schimmer von Hoffnung erglänzt dem
Sünder in dem so ausdrucksvollen Baß-Rezitativ mit Streicherbegleitung.
Die folgende Tenorarie kündet des Menschen Entschluß, Reichtümer
aufzugeben und Jesus Christus zum Gefährten zu wählen. Schnell gleitende
Violinpassagen mögen hier den durch die Finger rinnenden Mammon
versinnbildlichen, langsame Noten des Horns die durch Christi Hilfe
gewonnene Sicherheit und Geborgenheit. Im Schlußchoral, einer
Harmonisierung von „Jesu, der du meine Seele", bringen die begleitenden
Streicher eine Zusammenfassung des ganzen Stimmungsablaufs in der
Kantate. Sie beginnen mit schreckhaft zitternden wiederholten
Sechzehntelnoten; allmählich wird die Bewegung langsamer, bis am Ende
62Vgl. Alfred Dürr, Die Kantaten von Johann Sebastian Bach mit ihren Texten, Kassel
1995, S. 520 - 522.
39
Viertelnoten volles Vertrauen auf Gottes Erbarmen verkünden. Die
ergreifenden chromatischen Fortschreitungen in den letzten Takten - die
Bach neuerlich zu Beginn der auf dem gleichen Choral aufgebauten Kantate
BWV 78 verwendete - sollen darauf hindeuten, daß es der Opfertod des
Heilands war, der der Menschheit Erlösung brachte.
Am nächsten Sonntag nahm Bach in typisch lehrhafter Weise den gleichen
Gedanken wieder auf. Der Text von BWV 46, „Schauet doch und sehet",
behandelt die Bestrafung des Sünders und die Begnadigung des Gläubigen,
ein starker Gegensatz, der von dem unbekannten Librettisten nicht gerade
geschickt behandelt wurde, den Komponisten jedoch zu einer seiner
eindrucksvollsten Schöpfungen inspirierte.63 Unruhige Passagen von zwei
Blockflöten erklingen in der kurzen Einleitung und führen zu einem
mächtigen Chor, der auf dem Klagegesang des Jeremias (I/12) aufgebaut ist
- „Schauet doch und sehet, ob irgend ein Schmerz sei wie mein Schmerz".
Diesem gramvollen Stück (das Bach später als Grundlage für das „Qui
tollis" der h-Moll-Messe verwendete) folgt eine fünfstimmige von Angst
und Verzweiflung erfüllte Fuge. Bemerkenswerterweise werden in diesem
Satz nur vier Stimmen von Sängern ausgeführt; die fünfte ist den unisono
spielenden Blockflöten übertragen. Zwei Arien mit vorangehenden
Rezitativen bilden den Mittelteil des Werkes. Die erste bringt ein fast
apokalyptisches Bild von Vernichtung und Zerstörung, um den Zorn des
Herrn zu schildern („Da überhäufte Sünden der Rache Blitz entzünden").
Hier verwendet Bach ein ungewöhnliches Instrument - „tromba o corno da
tirarsi" -, ein kleines Blechblasinstrument, das mit Hilfe eines ausziehbaren
Rohres die Tonhöhe verändert; sein herber Klang muß die Furcht in der
Seele der Hörer noch verstärkt haben. Eine unheimliche Stimmung herrscht
auch noch in dem anschließenden Rezitativ vor; dann aber tritt eine
merkwürdige Veränderung ein. (Hier mag die Predigt eingeschoben worden
sein.) Eine Altarie führt uns empor zu den Gefilden der Seligen. Die
schwerelosen pastoralen Töne der Blockflöten und der Oboi da caccia64,
ohne Stütze der Streicher, mischen sich mit der Altstimme in einer
63Vgl. ebd., S. 534 - 537.
64Altoboen, eine Quinte unter der Tonhöhe der gewöhnlichen Oboe, dem Englisch-Horn
verwandt.
40
Beschreibung des guten Hirten, der die Gläubigen um sich sammelt. Im
Schlußchoral kommt Bach wieder auf die unruhigen Passagen des Anfangs
zurück. Sie werden nun verwendet, um die einzelnen Zeilen des Chorals zu
verbinden und der Bitte Nachdruck zu verleihen, Gott möge, um seines
Sohnes willen, der Menschheit Gnade angedeihen lassen.
In Leipzig war es üblich, die Einsetzung des neugewählten Stadtrates mit
einem Gottesdienst zu feiern, der durch die Aufführung einer für diesen
Anlaß geschriebenen Kantate besondere Bedeutung gewann. Bach, der die
Mühlhäuser Kantate BWV 71 für eine solche Gelegenheit verfaßt hatte,
komponierte mehrere Werke dieser Art.65 Das früheste, und dabei eines der
bedeutendsten, ist BWV 119, „Preise, Jerusalem, den Herrn", das 1723
erklang.66 Der Eingangschor ist von einer besonders festlichen Stimmung
erfüllt. Bach wählte ein ungewöhnlich großes Orchester mit 2 Blockflöten, 3
Oboen, 4 Trompeten und Pauken und gab dem Stück die Form einer
französischen Ouvertüre. Ihr erster und dritter Teil, ein Grave mit den
üblichen punktierten Rhythmen, ist den Instrumenten anvertraut. Im
rascheren Mittelteil, mit seinen imitierenden Passagen, gesellt sich der Chor
kraftvoll hinzu und läßt Worte von Psalm 147,12-14 in jubelndem Lob des
Herrn erklingen. Die folgenden zwei Arien für Tenor und Alt sind lyrischen,
fast pastoralen Charakters, da sie die Gerechtigkeit einer guten Regierung
und das friedliche Leben der Bürger schildern. Oboi da caccia (wohl von
den Oboisten des ersten Satzes gespielt) und Blockflöten werden zur
Begleitung dieser liebenswürdig-idyllischen Kompositionen verwendet, in
denen es Bach gelingt, sich von dem hohlen Pathos des Textes
freizumachen. In dem die beiden Arien verbindenden Baß-Rezitativ läßt
sich Bach von den Worten „So herrlich stehst du, liebe Stadt" anregen, mit
Hilfe von Trompeten und Holzbläsern ein prunkvolles und doch warm
empfundenes Bild der Stadt zu gestalten, die er vor kurzem zu seiner
65Erhalten haben sich die Kantaten BWV 29, 69, 119, 120, 193. Auch die Kantate BWV
137, die für den 12. Sonntag nach Trinitatis bestimmt war, wurde wahrscheinlich anläßlich
eines Ratswechsels wiederverwendet. Die Musik zu BWV Anh. 3 und 4 ist verloren. Nach
Werner Neumann (BJ (= Bach Jahrbuch, Leipzig und Berlin, 1904 ff.) 1961, S. 52 ff.)
fanden nicht weniger als 27 Aufführungen solcher Ratswahlkantaten während Bachs
Dienstzeit in Leipzig statt, und es muß daher eine beträchtliche Anzahl solcher Werke
verloren gegangen sein.
66Vgl. Alfred Dürr, Die Kantaten von Johann Sebastian Bach mit ihren Texten, Kassel
1995, S. 802 - 804.
41
Heimat erkoren hatte. Ein zweiter Chorsatz „Der Herr hat Guts an uns
getan" ist in breiter Da-capo-Form gehalten und erinnert in der
Instrumentation und dem festlichen Charakter sowie in der gelegentlichen
Verwendung punktierter Rhythmen an den ersten Satz. Das vom Chor
eingeführte Fugenthema ist der Melodie des Chorals „Nun danket alle Gott"
entwachsen und drückt damit in einfachster Weise den Grundgedanken des
Werkes aus. Der Schlußchoral betont ihn ebenfalls; hier wird ein kraftvolles
Gebet Luthers auf die Melodie „Herr Gott, dich loben wir" angestimmt.
Die Kantate BWV 65, „Sie werden aus Saba alle kommen", entstand 1724
für Epiphanias auf Worte eines unbekannten Textdichters.67 Der berühmte
Eingangschor ist groß angelegte konzertierende Musik, in der vier
Instrumentengruppen - Hörner, Blockflöten, Oboi da caccia und Streicher -
mit den Singstimmen wetteifern, um ein leuchtend farbiges Bild des
stattlichen Zuges zu entwerfen, der mit gold- und weihrauchbeladenen
Kamelen Geschenke für den Heiland bringt.68 Unerschöpfliche Phantasie,
feinfühligste Verwendung der Tonfarben und eine von tiefstem Ausdruck
beseelte Deklamation wirken hier zusammen, um die Prophezeiung des
Jesaja (Jesaja 60,6) aufs eindringlichste zu vertonen. Die restlichen
Nummern dieser Kantate - zwei einfache Choräle, die eine Baß- und eine
Tenorarie mit vorangehenden Rezitativen umrahmen - sind dagegen
musikalisch weit schlichter gehalten, da der Komponist zum Ausdruck
bringen will, daß es Jesus nicht auf prunkvolle Geschenke, sondern auf die
Gaben des Herzens ankommt.
BWV 104, „Du Hirte Israel, höre", für den 2. Sonntag nach Ostern
(Misericordias Domini) 1724 bestimmt, ist von einer ernsten, pastoralen
Stimmung erfüllt.69 Der erste, auf Worten aus Psalm 80,2 beruhende Chor
beginnt mit einer instrumentalen Einleitung, in der sanft gleitende Triolen,
lang ausgehaltene Baßnoten und der Ton von zwei Oboen und einer Oboe
da caccia die Vorstellung eines seine Herde hütenden Hirten erwecken.
Nachdem der Chor einsetzt, wechseln homophone Abschnitte mit lebhaften
67F. Zander hält Bachs Verfasserschaft für den Text der Kantate BWV 65 für möglich. Vgl.
BJ (= Bach Jahrbuch, Leipzig und Berlin, 1904 ff.) 1965, S. 42 und 63.
68Vgl. Alfred Dürr, Die Kantaten von Johann Sebastian Bach mit ihren Texten, Kassel
1995, S. 208 - 209.
69Vgl. ebd., S. 340 - 342.
42
Fugatos ab, und so ergibt sich das Bild von umherirrenden Schafen, die der
führenden Hand des Schäfers bedürfen. In der h-Moll-Arie für Tenor findet
die Furcht der Kreatur, sich in der Wüste zu verirren, ergreifenden
Ausdruck. Seelischer Friede wird erst in der Baß-Arie in D-Dur gewonnen,
einem anmutigen Siciliano im Zwölfachtel-Takt. Der erste und dritte Teil
dieses Pastorales schildert das Glück der Schafe, die von dem guten Hirten
geleitet werden, während der mittlere die Seligkeit zum Ausdruck bringt, die
den Gläubigen nach dem Tod erwartet. Der Schlußchoral auf die Melodie
„Allein Gott in der Höh’ sei Ehr’" verwendet als Text eine Paraphrase der
Worte des 23. Psalms „Der Herr ist mein Hirte; mir wird nichts mangeln".
Auch hier ist der Grundcharakter der Kantate bewahrt; Bach gebraucht die
Holzblasinstrumente des ersten Chorsatzes und verleiht auf diese Weise
selbst der einfachen Harmonisierung des Kirchenliedes einen pastoralen
Anstrich.
2.5 Der Leipziger Jahrgang II (1724 - 1725)
Der zweite Jahrgang der Leipziger Kantaten, der vom ersten Sonntag nach
Trinitatis (11. Juni) 1724 bis Trinitatis (27. Mai) 1725 reicht, wird durch
Stimmen belegt, die zum großen Teil von der Thomasschule erworben
wurden und jetzt im Bach-Archiv, Leipzig, aufbewahrt werden, sowie durch
Partituren, die verschiedene Personen von Wilhelm Friedemann Bach
erhielten. Er umfaßt einige Werke weniger als der erste Jahrgang;
andererseits sind Bearbeitungen früherer Werke in dieser Gruppe nur selten
anzutreffen. Nach Alfred Dürr umfaßt dieser zweite Jahrgang
wahrscheinlich die folgenden, hier in der Reihenfolge des Kirchenjahres
angegebenen Kantaten:
„1724: BWV 20, 2, 7, 135, 10, 93, 107, 178, 94, 101, 113, 33, 78, 99, 8,
130, 114, 96, 5, 180, 38, 115, 139, 26, 116, 62, 91, 121, 133, 122.
43
1725: BWV 41, 123, 124, 3, 111, 92, 125, 126, 127, 1, 4
(Wiederaufführung). [...] 249, 6, 42, 85, 103, 108, 87, 128, 183, 74, 68, 175,
176."70
Fast drei Viertel dieser Werke weisen den gleichen festen Bau auf. Bis zu
Mariä Verkündigung (25. März) 1725 führte Bach nahezu ausschließlich
Werke auf, die man als strenge Choralkantaten bezeichnen kann. Jede
beruht auf einem bestimmten Kirchenlied, wobei gewisse Textstrophen
wörtlich am Anfang und am Ende, sowie oft auch in der Mitte zitiert
werden, während der Rest des Textes die übrigen Choralstrophen
paraphrasiert. Gewöhnlich finden sich wörtliche Zitate der Choralstrophen
zwei- oder dreimal innerhalb einer Kantate, doch gibt es auch Ausnahmen
wie BWV 92 und 178, wo fünf Strophen in der Originalfassung
wiedergegeben werden.71 Wenn Verse aus den Liedtexten in der
Originalform erscheinen, werden sie gewöhnlich von Hinweisen auf die
originale Melodie begleitet; dagegen ist die Musik zu den paraphrasierenden
Abschnitten in der Regel von Bach neu erfunden.72
Nachdem Bach alle Möglichkeiten der Choralkantate erprobt hatte, wandte
er sich von dieser Form ab und kehrte zu dem im ersten Jahrgang
verwendeten Kantatentypus zurück, in dem das Werk mit einem auf
Bibeltext beruhenden Chor beginnt und mit einem Choral abschließt.
Während die Textdichter für die strengen Choralkantaten und die
unmittelbar darauf folgenden Werke nicht mit Sicherheit festgestellt werden
können, wissen wir, daß Bach für die letzten neun Kantaten des Jahrgangs
Texte der erfolgreichen Dichterin Christiane Mariane von Ziegler
verwendete. Auch hier findet sich gewöhnlich ein Bibelzitat am Anfang und
ein Choral am Ende; dennoch sind gewisse Abweichungen von den
vorhergehenden Kantaten zu beobachten. Die Bibeltexte sind zu einem
großen Teil dem Johannesevangelium entnommen. Bisweilen erscheinen sie
nur am Anfang (BWV 103, 183), dann wieder zu Beginn und in der Mitte
(BWV 108, 87, 175) und in BWV 74 sogar an drei Stellen. In BWV 128
70Alfred Dürr, Die Kantaten von Johann Sebastian Bach mit ihren Texten, Kassel 1995,
Seite 50/51.
71Sonderfälle stellen BWV 4 und 137 dar, in denen alle Sätze den Choraltext wörtlich
verwenden.
44
ersetzt ein Choralchor am Anfang die Vertonung des Bibeltextes. In BWV
68 werden dagegen Verse des Evangeliums sowohl für den Anfang wie für
das Ende herangezogen. Bach vertraut das Bibelzitat nicht immer dem Chor
an. Wenn er eine Solostimme wählt, so verwendet er gewöhnlich die Form
des Ariosos, wobei der Text ähnlich einem Rezitativ behandelt wird,
Wortwiederholungen und der größere Anteil des Orchesters jedoch an die
Form der Arie gemahnen.73
Die Einzelbesprechung der folgenden sechs Kantaten mag das Bild des
zweiten Jahrganges klarer gestalten. Zunächst soll hierbei auf vier
Choralkantaten hingewiesen werden.
BWV 7, „Christ unser Herr zum Jordan kam", wurde für den Johannistag
(24. Juni) 1724 komponiert.74 Der Text folgt dem Lutherschen Choral, der
Christi Taufe und die wunderbare Wirkung des Sakraments auf Sünde und
Tod behandelt. Der Text der ersten und letzten Strophe wird wortgetreu
zitiert, und auch die Musik beruht auf der Choralmelodie; die dazwischen
stehenden fünf Verse sind leicht paraphrasiert, um Texte für drei Arien und
zwei verbindende Rezitative zu schaffen, zu denen frei erfundene Musik
verwendet wird. Im Eingangschor führt die Tenorstimme den Choral in
langen Noten ein, und die restlichen Stimmen umgeben ihn mit
unabhängigen Gegenmelodien. Dieses Vokalmaterial ist in einen
instrumentalen Rahmen von ungewöhnlicher Ausdruckskraft eingebettet,
der die Freude des Barock an Tonmalerei spiegelt. Mit Hilfe scharfer
Rhythmen und sanft gleitender Legatopassagen schafft Bach hier ein
Meisterwerk bildlicher Ausdruckskraft. Er läßt uns die bewegten Wasser des
Jordans sehen, der sich seinen Weg durch felsige Schluchten bahnt. Die
folgenden fünf Nummern zeigen einen einigermaßen abweichenden
Charakter. In jeder der Arien werden gewisse Baßstellen ostinato-artig
wiederholt - eine Technik, die Bach in seinen frühen Kantaten zu
gebrauchen pflegte. Die Vertonung der Tenorarie (Nr. 4) geht von den
Textworten aus:
72Vgl. Alfred Dürr, Die Kantaten von Johann Sebastian Bach mit ihren Texten, Kassel
1995, S. 49 - 56.
73Vgl. ebd., S. 49 - 56.
74Vgl. ebd., S. 758 - 761.
45
„Der Geist erschien im Bild der Tauben,
Damit wir ohne Zweifel glauben,
Es habe die Dreifaltigkeit
Uns selbst die Taufe zubereit’."75
Der giguenartige Neunachtel-Rhythmus weist hier auf die Dreifaltigkeit hin,
während das Niedersinken und Aufsteigen der Soloviolinen den Flug der
Tauben darstellt. In der Schlußnummer kehrt Bach nicht nur zu Text und
Musik des Lutherschen Chorals zurück; er nimmt auch die Instrumentierung
des Eingangschores auf und rundet das Werk mit einer monumentalen
Choralharmonisierung ab.
BWV 78, „Jesu, der du meine Seele", für den 14. Sonntag nach Trinitatis
(10. September) 1724 bestimmt, zeigt die in Bachs kirchlichen Vokalwerken
so beliebte Siebenzahl der Sätze.76 Johann Rists 1641 geschriebenes
geistliches Gedicht liegt sämtlichen Nummern zugrunde. Im ersten Chor
wird die erste Strophe des Liedes, im Choral Nr. 7 die zwölfte Strophe
unverändert gebracht. Die dazwischenliegenden, von Rezitativen
unterbrochenen Arien paraphrasieren Rists Dichtung in solcher Weise, daß
die Arien Nr. 2 und 6 je eine Strophe, die Arie Nr. 4 zwei Strophen und die
Rezitative Nr. 3 und 5 je drei Strophen des Kirchenliedes madrigalisch
umdichten; hierbei werden in Nr. 3 und 5 Bruchteile des Originaltextes
unverändert beibehalten. In analoger Weise wird die mit Rists Dichtung
traditionell verbundene Melodie des 17. Jahrhunderts von Bach nicht nur in
der ersten und letzten Nummer der Kantate verwendet, sondern
andeutungsweise auch in den Rezitativen Nr. 3 und 5, so daß sich eine
streng symmetrische und rondoartige Anlage von Text und Musik ergibt, die
auch eine gewisse Ähnlichkeit mit der für Bach so bedeutsamen
Vivaldischen Konzertform aufweist.
Der erste Satz zeigt eine selbst bei Bach in solcher Großartigkeit nur selten
auftretende Entfaltung kontrapunktischer Kunst. Hier findet sich eine
Passacaglia über ein chromatisch absteigendes Baßthema, wie es
Komponisten des Barocks gerne in ihren Lamenti verwendeten und auch
Bach im „Cruzifixus" seiner großen Messe gebrauchte. Im Verlaufe der
75ebd., S. 757.
76Vgl. ebd., S. 584 - 587.
46
Variationen erklingt das klagende Thema nicht nur im Baß, sondern steigt
auch zu den höheren Stimmen auf und erscheint transponiert sowie in
Gegenbewegung. In diese kunstvolle Struktur baut Bach - anscheinend
mühelos - eine Choralbearbeitung ein, in der der Cantus firmus im Sopran
liegt und von dem polyphonen Gewebe der übrigen Stimmen gestützt wird.
Das Ergebnis ist eine höchst eindringliche Schilderung der Leiden des
Heilands. Auf diesen überwältigenden, vom Gesamtinstrumentarium
begleiteten Chorsatz folgt ein zartes Duett für Sopran und Alt („Wir eilen
mit schwachen, doch emsigen Schritten"), das nur von Violoncello, Orgel
und Streicherbaß „staccato e pizzicato" begleitet wird. In seiner
einschmeichelnden Melodik, dem Tanzrhythmus mit Akzenten auf erstem
und drittem Taktteil, der unkomplizierten Harmonik und den häufigen
Fortschreitungen in parallelen Terzen und Sexten zeigt es einen Bach, der
volkstümliche Einfachheit anstrebte. Einer freudigen Arie für Tenor und
einer dramatischen Arie für Baß gehen eindrucksvolle Rezitative voran, die
nicht nur textliche Zitate aus dem Kirchenlied einfügen, sondern auch auf
dessen melodisches Material Bezug nehmen. Bemerkenswert ist vor allem
das von Streichern begleitete zweite Rezitativ, das schließlich in ein inniges
Arioso übergeht, dem Bach sogar die Vorschrift „con ardore" beifügt. Der
Schlußchoral bringt das Vertrauen des Christen auf Vereinigung mit Jesus
„in der süßen Ewigkeit" zum Ausdruck. So kündet auch diese Kantate von
Jesusminne und tief verwurzeltem Glauben an die Erlösung durch den
Heiland.
BWV 92, „Ich hab in Gottes Herz und Sinn", für Septuagesimae (28.
Januar) 1725 komponiert, besteht aus neun Sätzen, von denen drei (Nr. 1, 4
und 9) die Worte des Gedichtes von Paul Gerhardt unverändert verwenden,
während in den übrigen Abschnitten der Choraltext entweder mit Worten
eines unbekannten Autors des 18. Jahrhunderts vermischt (Nr. 2 und 7) oder
madrigalisch umschrieben wird (Nr. 3, 5, 6 und 8).77 Bach verwendet die
alte französische Melodie, die zu Gerhardts Kirchenlied gewöhnlich
gesungen wird, in mehr als der Hälfte der Abschnitte, so oft er den
ursprünglichen Text wörtlich zitiert.
77Vgl. ebd., S. 262 - 265.
47
Der Eingangschor ist eine mächtige Choralbearbeitung, in der die Melodie
dem Sopran übertragen ist, während die tieferen Stimmen und das Orchester
zur Interpretation des Textes beitragen. In Nr. 2 besteht ein überaus
wirkungsvoller Gegensatz zwischen den von einer Art Ostinatobaß
begleiteten Choralzeilen und den eingeschalteten, höchst dramatischen
Rezitativen. Die schnell aufeinanderfolgenden kurzen, durchaus
verschiedenen Abschnitte, in denen Deklamation und Gesang sich ablösen,
bringen ein merkwürdig erregendes, im Ausdruck typisch barockes Stück
hervor. Eine Steigerung erfolgt noch in der sich anschließenden Tenorarie,
die den Zusammenbruch und die Vernichtung des nicht von Gott
Geschützten schildert. Sowohl der Sänger (dessen Partie fast
unüberwindliche Schwierigkeiten bietet) wie das Orchester schaffen hier
eine Stimmung wilden Triumphes. Die Choralbearbeitung Nr. 4, in der Text
und Melodie des Kirchenliedes vom Alt vorgetragen werden, ist objektiver
im Charakter. Hier baut Bach die einzelnen Zeilen der Choralweise in ein
Trio für zwei Oboi d’amore und Continuo ein und schafft damit einen
überaus reizvollen gemischten Quartettsatz. Die letzte Arie (Nr. 8) für
Sopran, die fast wie eine Serenade klingt, schildert den paradiesischen
Frieden der in Jesu ruhenden Seele. Innerhalb einer einzigen Kantate, die ja
nur einen Bruchteil des Gottesdienstes ausmachte, gelang es Bach, die Welt
des barocken Protestantismus heraufzubeschwören. Die Gemeinde mußte
die Schrecken der Mächte der Finsternis erleben, bevor die Seligkeit der
Erlösung in blendendem Glanz vor ihr erstand.78
BWV 1, „Wie schön leuchtet der Morgenstern", für Mariä Verkündigung
(25. März) 1725 bestimmt, ist ein ungewöhnlich optimistisches Werk.79
Man könnte es fast als Tanzkantate bezeichnen, da sich in den meisten
Sätzen Beziehungen zu bekannten Tanzrhythmen finden. Die Partitur
schreibt zwei Soloviolinen neben zwei Oboi da caccia, zwei Hörnern und
den begleitenden Streichern vor. „Wie schön leuchtet der Morgenstern" ist
eine Choralkantate, die auf dem bekannten Kirchenlied mit dem 1599 von
Philipp Nicolai gedichteten Text aufgebaut ist. Wieder gebraucht Bach im
ersten und letzten Satz die entsprechenden Strophen von Nicolais Gedicht
78Vgl. ebd., S. 262 - 265.
79Vgl. ebd., S. 739 - 741.
48
mit der zugehörigen Choralmelodie. Der Mittelteil des Kirchenliedes
(zweite bis sechste Strophe) wurde nicht in der Originalform verwendet,
sondern in zwei Paare von Rezitativ und Arie umgedichtet. Da hier keine
textlichen Zitate erscheinen, haben diese Nummern auch keine direkte
Beziehung zum Kirchenlied.
Der erste Satz ist ein glanzvoller Choralchor, in dem, nach einer in sanften
Pastellfarben gehaltenen Instrumentaleinleitung, die Soprane das
Kirchenlied in langen Noten anstimmen, während die tieferen Stimmen und
die Instrumente eine fröhlich bewegte Begleitung beistellen, die häufig dem
Choral entlehntes Material benützt. Die Sechzehntelfiguren der Violinen
zeichnen hierbei in deutlicher Weise das Flimmern des Morgensternes.
Ebenso heiter ist die Stimmung in der von Oboe da caccia und Generalbaß
begleiteten Sopranarie Nr. 3. Freudige Ungeduld spricht aus diesem Trio,
das der Erwartung himmlischer Lust Ausdruck verleiht. In der brillanten,
technisch ungemein schwierigen Tenorarie Nr. 5 erscheinen die beiden im
ersten Chor verwendeten Soloviolinen wieder und verstärken den festlichen
Charakter des Stückes. Die letzte Nummer, eine durch ein ausdrucksvolles
Hornsolo belebte Choralharmonisierung, verkündet in einfacher, doch
kraftvoller Sprache den Glauben der Menschheit an die schließliche
Erlösung.
Den strengen Choralkantaten nahe verwandt ist BWV 80, „Ein feste Burg",
ein Werk, das zum Reformationsfest 1724 zum erstenmal erklungen sein
mag.80 Das Werk stellt die Erweiterung einer 1715 in Weimar auf einen
Text von Salomo Franck komponierten Kantate dar (BWV 80a). Die erste
Nummer des älteren Werkes war eine Choralbearbeitung, in der die Oboe
den Cantus firmus, Luthers „Ein feste Burg", anstimmte, während der Baß
als Gegenmelodie die triumphierende Botschaft „Alles, was von Gott
geboren, ist zum Siegen auserkoren" erklingen ließ. Zwei Solonummern,
jede mit vorangehendem Rezitativ, folgten, und eine einfache
Harmonisierung des Lutherschen Chorals beschloß das Werk. In dieser
Fassung hatte die Kantate, die aus Choralbearbeitung, Rezitativ, Arie,
Rezitativ, Arie und Choralbearbeitung bestand, einen symmetrischen Bau.
In Leipzig wurden zwei kraftvolle, auf Luthers Lied beruhende Choralchöre
49
hinzugefügt, der eine am Anfang, der andere in der Mitte, nach der ersten
Arie. Das schöne Ebenmaß des Werkes wurde durch diese Zusätze
beeinträchtigt, seine Ausdrucksstärke aber wesentlich erhöht. Eine zweite
Bearbeitung scheint von Friedemann Bach durchgeführt worden zu sein, der
dem Instrumentarium der nachkomponierten Chöre Trompeten und Pauken
hinzufügte, was die Wirkung so steigert, daß dieser Zusatz allgemein
beibehalten wird.
Die erste Nummer der endgültigen Fassung entwickelt die einzelnen
Choralzeilen in frei gebauten vokalen Fugatos. Sie werden von einem
Kanon eingeschlossen, der das Kirchenlied in langen Noten in den höchsten
und tiefsten Instrumentalstimmen bringt. Hier wird ein Non-plus-ultra
kontrapunktischer Meisterschaft ins Treffen geführt, um das Walten des
göttlichen Gesetzes innerhalb des Universums zu versinnbildlichen. Anders
angelegt ist Nr. 2, in dem die Choralweise vom Sopran vorgetragen wird,
während der Baß eine Gegenmelodie anstimmt. Im Zentrum der Kantate
steht Nr. 5, in der alle vier Stimmen des Chores das Kirchenlied in
kraftvollem Unisono erklingen lassen. Um sie tobt das wild bewegte
Orchester, „die Welt voll Teufel" des Textes. Wer das gewaltige Stück
vernimmt, wird sich bewußt, daß für Bach, ebenso wie für Luther, der
Teufel etwas durchaus Reales war. Der Kampf ist vorüber in der
Schlußnummer, in der das Kirchenlied zum viertenmal, nunmehr in
einfacher Harmonisierung, erklingt und die Gemeinde in schlichten Tönen
ihrem Glauben an die ewige Gültigkeit des christlichen Gesetzes Ausdruck
verleiht.
BWV 6, „Bleib bei uns, denn es will Abend werden", für Ostermontag 1725
bestimmt, nimmt die Textanordnung auf, die Bach im ersten Leipziger
Kantatenjahrgang bevorzugte.81 Das Bibelzitat für diesen Tag berichtet, wie
sich Christus zwei Jüngern auf der Straße nach Emmaus anschloß und sie
ihn anflehten, bei ihnen zu verweilen: „Bleibe bei uns; denn es will Abend
werden und der Tag hat sich geneigt" (Lukas 24,29). Bei Bach ist dies nicht
mehr die Bitte von Einzelpersonen; die ganze Menschheit fleht den Herrn
an, ihr zur Seite zu stehen, wenn Dunkelheit droht. Der erste Teil des auf
80Vgl. ebd., S. 782 - 785.
81Vgl. ebd., S. 320 - 322.
50
dem Bibelzitat aufgebauten Eingangschores, der im dritten Teil in
modifizierter und stark zusammengedrängter Form wieder erscheint, drückt
unbestimmte Furcht aus. Bach bildet ein Trio aus 2 Oboen und einer Oboe
da caccia und ein anderes aus 2 Violinen und Viola. Während die
Holzbläser eine sanfte, traurige Weise anstimmen (ähnlich der Melodie in
der Schlußnummer der Matthäus-Passion), begleiten die Streicher mit
tiefen, sich wiederholenden Noten voll müder Wehmut. Der Mittelteil
verwendet den gleichen Text; hier wird durch kunstvolle kontrapunktische
Behandlung eine dramatische Steigerung erzielt. Bach führt neue Themen
ein, jedes von anderem Gefühlsgehalt, um die drei Textzeilen zu vertonen.
In höchst erregender Weise werden diese musikalischen Gedanken
nebeneinander gestellt und miteinander verwoben. Besonders eindrucksvoll
ist das Ende des Satzes. Die Chorstimmen vereinigen sich in dem Aufschrei:
„Bleib bei uns", während in den Instrumentalstimmen die beiden anderen
Melodien erklingen. Die folgende Altarie beginnt und endet mit dem
gleichen instrumentalen Ritornell, verwendet aber im vokalen Abschnitt die
ungewöhnliche Form a b b’, um den zweiten Teil des Textes „Bleib, ach
bleibe unser Licht, weil die Finsternis einbricht!" besonders zu betonen. In
Nr. 3, einer Sopranarie, führt die Singstimme in langen Noten den Choral
„Ach bleib bei uns, Herr Jesu Christ" vor, während ein Violoncello
piccolo82 kraftvoll mit einer dem Kirchenlied entwachsenen Melodie
begleitet. Die erregte Tenorarie Nr. 5, in g-Moll, drückt wieder Furcht aus,
und nur am Ende des abschließenden Chorals mit Worten Luthers wendet
sich Bach zur Dur-Tonart und bringt damit das Aufleuchten der Hoffnung
im Menschenherzen zum Ausdruck.
Als Beispiel einer Kantate auf einen Text von Mariane von Ziegler sei BWV
68, „Also hat Gott die Welt geliebt", angeführt, ein Werk, das für den
zweiten Pfingsttag 1725 bestimmt war.83 Dies ist eine verhältnismäßig kurze
Komposition, in der zwei Chöre zwei durch ein Rezitativ getrennte Arien
umrahmen. Als Eingangschor dient ein choralartiges Stück, das den Vers
von Johannes 3,16 paraphrasiert: „Also hat Gott die Welt geliebt, daß er
82Eine fünfsaitige, kleinere Abart des Cellos.
83Vgl. Alfred Dürr, Die Kantaten von Johann Sebastian Bach mit ihren Texten, Kassel
1995, S. 408 - 411.
51
seinen eingeborenen Sohn gab, auf daß alle, die an ihn glauben, nicht
verloren werden, sondern das ewige Leben haben." Der Text der
Umdichtung und die dazu gehörige Choralweise finden sich in „Neu
Leipziger Gesangbuch" von Gottfried Vopelio,84 Leipzig 1682. Bach hat das
Stück als Siciliano im Zwölfachtel-Takt gesetzt, wobei der feierliche
Tanzcharakter mit seinem leicht pastoralen Unterton die Heilsbotschaft
versinnbildlicht. Die ornamentierte Choralmelodie ist dem Sopran
anvertraut, den die anderen Singstimmen halb melodisch, halb imitatorisch
stützen. Die folgenden beiden Arien gehen auf Stücke in der Jagdkantate
BWV 208 zurück. Die Sopranarie „Mein gläubiges Herze" stellt eine
Neugestaltung von melodischem Material in der Arie der Pales (Nr. 13) des
älteren Werkes dar. Die spätere Fassung ist jedoch mehr als doppelt so lang
und auch inhaltlich weit reicher gestaltet. Ein Violoncello piccolo wetteifert
hier mit der menschlichen Stimme, die immer wieder in die glänzende hohe
Lage geführt wird. Leid und Erdenschwere sind abgestreift, und in
ekstatischem Jubel schwingt die Seele sich himmelwärts. Nicht übersehen
werden dürfen die feinen Verbesserungen, die bei dieser Komposition an
dem Text Mariane von Zieglers vorgenommen wurden. So heißt es etwa bei
der Dichterin: „Getröstetes Hertze, frohlocke und schertze", in der Kantate
aber: „Mein gläubiges Herze, frohlocke, sing, scherze". Bach kam es eben
darauf an, sowohl das subjektive wie das musikalische Element zu betonen.
Recht ungewöhnlich ist das die Arie abschließende „Ritornello", ein
Instrumentalstück von nicht weniger als 27 Takten, in dem sich Violine und
Oboe dem Violoncello zugesellen, um nochmals die instrumentale Melodie
poetisch auszudeuten. Die folgende Baßarie, die in einer Art freier Da-capo-
Form gehalten ist, stellt gleichfalls ihrem Vorbild in der Jagdkantate (BWV
208/7) gegenüber eine Erweiterung dar. Natürlich sind die beiden
Kompositionen in ihren Grundzügen verwandt, und es mag wohl sein, daß
auch die Dichterin, Bachs Wunsch folgend, ein Stück geschaffen hat, das
sich textlich an Salomo Francks Arie in der älteren Kantate anschließt. Im
Versmaß beider Stücke zeigt sich jedenfalls starke Ähnlichkeit. Der
84Sie sind in NBA (= J. S. Bach, Neue Ausgabe sämtlicher Werke herausgegeben vom J. S.
Bach-Institut Göttingen und vom Bach-Archiv Leipzig, Kassel 1954 ff.), Serie I, B 14a, S.
54 wiedergegeben.
52
Schlußchor „Wer an ihn gläubet, der wird nicht gerichtet" verwendet einen
Vers des Johannesevangeliums (3,18) in seiner Originalgestalt. Bach setzt
den ausgedehnten Spruch als Doppelfuge, wobei den zwei Themen zum Teil
verschiedene Textabschnitte unterlegt sind. Die Instrumente des Orchesters
verdoppeln die Singstimmen, so daß ein Motettencharakter von
monumentaler Wucht erzielt wird.
Eine Art Nachtrag zum zweiten Jahrgang bringen die zwischen Trinitatis
(27. Mai) 1725 und dem ersten Advent (2. Dezember) 1726 aufgeführten
Kantaten. Zu dieser Gruppe gehören BWV 79, zum Reformationsfest
(31. Oktober) komponiert, die Kantaten 168 und 164, die möglicherweise
schon in Weimar entstanden, sowie BWV 137, ein Werk, das einen
erstaunlich rückblickenden Charakter aufweist, da es - wie BWV 4 - in allen
Nummern den unveränderten Choraltext mit der in verschiedenen
Bearbeitungen auftretenden Choralmelodie beibehält. Eine deutliche
Hinwendung zu neuem Schaffen ist in diesen sechs Monaten nicht zu
beobachten. Vielleicht wollte Bach - wie Alfred Dürr vermutet - den neuen
Jahrgang zu Beginn des Kirchenjahres in Angriff nehmen.
2.6 Der Leipziger Jahrgang III (1725 - 1727)
Der dritte Kantatenjahrgang wird hauptsächlich durch Partituren und eine
Anzahl Stimmen aus dem Besitze Emanuel Bachs belegt. Er beginnt mit
einer am ersten Weihnachtstag 1725 aufgeführten Kantate und reicht bis
Septuagesimae (9. Februar) 1727. Die fieberhafte Intensität des Schaffens
hat nun etwas nachgelassen. Der dritte Kantatenjahrgang erstreckt sich über
vierzehn Monate, da gewisse Sonn- und Feiertage vom Komponisten
übergangen wurden. Auch ist es bemerkenswert, daß Sebastian in diesen
Jahrgang siebzehn oder achtzehn Kantaten seines Verwandten, des
Meininger Hofkapellmeisters Johann Ludwig Bach (1677 - 1731),
aufgenommen hat. Von Mariä Reinigung (2. Februar) 1726 an erscheinen
53
Ludwigs Kantaten häufig in diesem Kantatenjahrgang, wobei nicht weniger
als elf dieser Partituren vom Thomaskantor selbst kopiert wurden.85
Nach Alfred Dürr umfaßt der dritte Leipziger Kantatenjahrgang die
folgenden, hier in der Ordnung des Kirchenjahres angegebenen Werke:
1725: BWV 137, 168, 164, 79.
1725/1726: BWV 110, 57, 151, 28, 16, 32, 13, 72.
1726: BWV 146, 43, 39, 88, 170, 187, 45, 102, 35, 17, 19, 27, 47, 169, 56,
49, 98, 55, 52.
1727: BWV 58, 82, 84.86
Die Kantaten des dritten Leipziger Jahrganges bestehen aus zwei
Abschnitten. Der erste Satz des ersten Teils beruht auf einem Text des Alten
Testaments und ist als polyphon gestalteter Chor oder (wie in BWV 88) als
Arie komponiert. Dann folgen eine Anzahl Rezitative und Arien, wobei die
vierte Nummer, die zumeist den zweiten Teil als eine Art Motto eröffnet,
einen Text aus dem Neuen Testament verwendet. In der üblichen Weise
bildet eine Choralharmonisierung den Abschluß.87
Obwohl in manchen Kantaten des zweiten Jahrganges, die auf Dichtungen
Mariane von Zieglers zurückgehen, ebenfalls zwei verschiedene Bibelzitate
als Textgrundlage einiger Sätze dienen, so weist hier doch der betonte
Gegensatz zwischen alt- und neutestamentlichen Texten auf den Einfluß
Ludwig Bachs hin. Gleichzeitig ist eine gewisse Ähnlichkeit mit Sebastians
eigenen Kantaten der Mühlhausener Zeit unverkennbar.88
Auch sonst lassen sich im dritten Jahrgang sowohl ältere wie neue Züge
beobachten. Unter den Texten befinden sich Dichtungen von Neumeister
(BWV 28) und Franck (BWV 72). Mehrere Kantaten bringen Bearbeitungen
zweier Choräle (BWV 28, 19, 13, 16, 27), und die Form des Dialogs
erscheint wiederholt (BWV 57, 32, 49, 58), meist in Form einer
Zwiesprache der Seele (Sopran) mit Jesus (Baß).89 Solokantaten,
gewöhnlich mit einem (wohl von der Gemeinde angestimmten)
Schlußchoral, stellen eine wichtige Neuerung dar. Hierbei finden alle
85Vgl. Alfred Dürr, Die Kantaten von Johann Sebastian Bach mit ihren Texten, Kassel
1995, S. 56 - 61.
86Vgl. ebd., S. 57/58.
87Vgl. ebd., S. 56 - 61.
88Vgl. ebd., S. 56 - 61.
54
Stimmregister Verwendung - BWV 52 und 84 sind für Sopran geschrieben,
BWV 35, 169, 170 für Alt, BWV 55 für Tenor, BWV 56 und 82 für Baß.90
Während Bach in die vorhergehenden Jahrgänge Neubearbeitungen älterer
Vokalwerke einfügte, übernahm er nunmehr öfters seine früheren
Instrumentalwerke in den dritten Kantatenjahrgang.91 In BWV 169 begegnet
uns zum Beispiel als Sinfonia ein Stück, das uns als erster Satz des E-Dur-
Konzertes für Cembalo und Orchester (BWV 1053) bekannt ist. Eine Arie
dieser Kantate geht aus dem langsamen Satz des gleichen Konzertes hervor;
mit großem Geschick ist hier der Vokalpart in das instrumentale Gewebe
eingefügt.92 Andererseits ist das Finale desselben Konzertes als Sinfonia der
Kantate 49 verwendet.93 In gleicher Weise scheinen in Kantate 35 die
beiden Sinfonien mit obligater Orgel, welche den ersten und zweiten
Abschnitt des Werkes einleiten, aus dem ersten und letzten Satz eines
Cembalokonzertes (BWV 1059) hervorgegangen zu sein, das bis auf neun
Takte verloren ist. Die Altarie, Satz 2, dieser Kantate mag auf dem
Mittelsatz des gleichen Konzertes beruhen.94 - In der Kantate 52 entstand
die Sinfonia aus dem Eingangssatz des ersten Brandenburgischen
Konzertes.95 In BWV 110 ist die Ouvertüre der vierten Orchestersuite in DDur
in den Eingangschor verwandelt; hier dienen das erste und das letzte
Grave als instrumentale Einleitung, beziehungsweise als Nachspiel,
während der Chor in den Mittelteil eingebaut ist.96
BWV 19, „Es erhub sich ein Streit", war für den Michaelistag
(29. September) des Jahres 1726 bestimmt.97 Hier mag der Komponist selbst
die Worte teilweise geliefert haben, wobei er als Vorlage eine früher
entstandene Dichtung Picanders98 benützen konnte. Der auf der
Offenbarung Johannes beruhende Text beschreibt den Krieg im Himmel, in
89Vgl. ebd., S. 59.
90Vgl. ebd., S. 56 - 61.
91Vgl. ebd., S. 59.
92Vgl. ebd., S. 637.
93Vgl. ebd., S. 660.
94Vgl. ebd., S. 566.
95Vgl. ebd., S. 696.
96Vgl. ebd., S. 128.
97Vgl. ebd., S. 772 - 774.
98Picander ist das Pseudonym, das der Postbeamte und spätere Steuereinnehmer Christian
Friedrich Henrici (1700 - 1764) bei der Veröffentlichung seiner Dichtungen verwendete. Er
schrieb die Libretti für zahlreiche Bachsche Kantaten sowie für die Matthäuspassion.
55
dem Michael und seine Engel den „großen Drachen, der da heißt Satanas"
bekämpfen, ein Thema, das bereits in einer meisterhaften Vertonung von
Johann Christoph Bach, dem großen Vorfahren des Meisters, vorlag - einer
Vertonung, die Sebastian wahrscheinlich bekannt war. Ohne vorausgehende
instrumentale Einleitung stimmen die Bässe den mächtigen Schlachtgesang
an, der kraftvoll durch alle Stimmen aufwärts steigt. Später kommen
Trompeten und Pauken hinzu und führen den Hörer in die Mitte des wilden
Kampfes. Ein Höhepunkt wird zu Beginn des leidenschaftlichen Mittelteils
erreicht, da die Mächte der Dunkelheit ihr äußerstes tun, um den Himmel zu
erobern. Michael aber besiegt den Feind, und drei Trompeten verkünden
unisono die Vernichtung des furchtbaren Drachens. Aus rein dramatischen
Gründen wäre es richtig gewesen hier zu enden. Sebastian aber erschien es
wichtig, den Chor abzurunden, und er beginnt daher nochmals mit „Es
erhub sich ein Streit". Die folgenden Nummern schildern in teils lyrischer,
teils epischer Weise die Ergebnisse des Sieges. Hier findet sich eine innige
Arie für Sopran mit zwei Oboi d’amore und ein Rezitativ, das die liebevolle
Güte des Heilands schildert, wobei das Streichorchester, wie später in der
Matthäuspassion, die Worte des Sängers mit einer Art Heiligenschein
umwebt. In einer ergreifenden Tenorarie fleht die Seele „Bleibt, ihr Engel,
bleibt bei mir", und um die Bitte noch zu verstärken, intoniert die Trompete
die Melodie zu dem Choral „Herzlich lieb hab ich Dich, o Herr", wobei
Bach offensichtlich die letzte Strophe im Auge hatte: „Ach Herr, laß dein
lieb Engelein am letzten End die Seele mein in Abrahams Schoß tragen."
Dieser Gedanke wird weiter verfolgt im Schlußchoral (neunte Strophe von
„Freu dich sehr, o meine Seele"), in dem die Engel angefleht werden, der
Menschheit in ihrer letzten Stunde beizustehen. Die Instrumentation ähnelt
hier der des ersten Stückes, wodurch zum Ausdruck gebracht wird, daß
Michaels Sieg den Weg für die Erlösung der Seele bereitete.
Es ist bemerkenswert, daß das Autograph auf der ersten Seite folgende
Aufschrift von Bachs Hand aufweist: „J. J. Festo Michaelis, Concerto a 14".
Die ersten zwei Buchstaben sind Abkürzungen für „Jesu Juva" (Hilf, Jesus),
wie sie der Komponist häufig zu Beginn eines Werkes niederschrieb. Das
vierzehnstimmige Instrumentarium besteht aus drei Trompeten, drei Oboen,
drei Streichern, dem Vokalquartett und Continuo (wobei die Pauke in
56
üblicher Weise nicht mitgezählt wird). Der Name des Komponisten ist auf
dem Autograph nicht angegeben, obwohl Platz genug hierfür vorhanden
gewesen wäre und Bach gewöhnlich seinen Namen auf den Partituren
eintrug. Smend99 gibt zur Erklärung an, daß die Ziffer vierzehn für alle mit
Zahlensymbolik Vertrauten den Namen Bach bedeutete und es der
Komponist daher für unnötig erachtete, seinen Namen noch in Buchstaben
zu schreiben.
Eine der schönsten Kompositionen Bachs für Einzelstimme, in der auch
beträchtliche Anforderungen an die Virtuosität des Sängers gestellt werden,
ist BWV 56 „Ich will den Kreuzstab gerne tragen", ein Werk von intimem
Kammermusikcharakter, das für den neunzehnten Sonntag nach Trinitatis
(27. Oktober) 1726 bestimmt war.100 Das tiefempfundene Werk für
Baßstimme, Oboe, Oboe da caccia und Streicher hat nicht nur kirchliche
Gemeinden, sondern auch unzählige Konzertbesucher begeistert. Die
Kantate hat keine instrumentale Einleitung und beginnt mit einer
großangelegten Arie. Im zweiten Teil stimmt die Solostimme Triolen an,
während die Instrumente ihre frühere Bewegung in Achtelnoten beibehalten.
Die sich so ergebende Mischung verschiedener Rhythmen drückt wunderbar
die innige Todessehnsucht aus bei den Worten „Da leg’ ich den Kummer
auf einmal ins Grab, da wischt mir die Tränen mein Heiland selbst ab".
In dem folgenden ergreifenden Arioso schildert Bach, von den Worten
ausgehend „Mein Wandel auf der Welt ist einer Schiffahrt gleich", die
Bewegung der Wellen durch ein dem Violoncello anvertrautes Motiv. Diese
Begleitung hört plötzlich auf, sobald der müde Wanderer den Himmel
erreicht und das Schiff verläßt. Vom gleichen starken Gefühlsgehalt erfüllt
ist das zweite Rezitativ gegen Ende des Werkes, in dem die Seele ihre
Bereitschaft ausdrückt, Seligkeit von Jesu Händen zu empfangen. Hier
verwendet der Meister lang ausgehaltene Streichernoten, um die
Erscheinung Christi zu versinnbildlichen. In die zweite Hälfte des Rezitativs
fügt Bach ein Zitat aus der ersten Arie ein, wodurch die erste und die letzte
Solonummer des Werkes in poetischer Weise verknüpft werden. Selbst in
99Vgl. Friedrich Smend, J. S. Bach: Kirchenkantaten, 6 Bde, Berlin, 1948-49, hier:
„Kirchenkantaten", III, S. 42 f.
100Vgl. Alfred Dürr, Die Kantaten von Johann Sebastian Bach mit ihren Texten, Kassel
1995, S. 646 - 648.
57
diesem intimen Werk ist der Komponist nicht bereit, auf einen Schlußchoral
zu verzichten, und so endet die „Kreuzstabkantate" mit einem
vierstimmigen Kirchenlied, das wohl von der Gemeinde gesungen wurde.
2.7 Picander und sein Jahrgang (1728 - 1729)
Über den vierten Jahrgang und insbesondere über den fünften ist nur wenig
bekannt, da die meisten dieser Werke verloren zu sein scheinen. Bach
verwendet nun mehr und mehr Texte des geschickten Gelegenheitspoeten
Picander. Alfred Dürr nimmt an, daß die Kantaten BWV 120, 120a, 145,
149, 156, 159, 171, 174, 188 und 197a, die meist Picandersche Texte
verwenden, dem vierten Jahrgang zuzuweisen sind, der in der zweiten
Hälfte des Jahres 1728 und im Jahr 1729 entstand.101
Als ein Beispiel für den Charakter dieses zahlenmäßig geringfügigen, doch
künstlerisch überaus hochstehenden Jahrganges sei die Michaeliskantate
BWV 149 „Man singet mit Freuden vom Sieg" erwähnt.102 Ähnlich der
Kantate „Es erhub sich ein Streit" verleiht sie, ausgehend vom Sieg des
Erzengels über Satan, der Hoffnung der Menschheit auf ewige Seligkeit
Ausdruck. Wie auch andere Werke dieser Gruppe ist BWV 149 zum Teil
durch Parodie einer älteren Komposition entstanden. Die erste Nummer ist
aus dem Schlußchor der „Jagdkantate" BWV 208 hervorgegangen, einem
Werk, das auch schon früher für die Pfingstkantate BWV 68 von Bach
herangezogen worden war. In der Michaeliskantate sind die zwei Hörner des
Originals durch drei Trompeten und Pauken ersetzt, was auch eine
Transposition von F-Dur zu der Trompetentonart D-Dur erforderte. Die
feurigen Worte zu Ehren des Fürsten Christian haben den in gleicher
Stimmung gehaltenen Versen des Psalmisten (Psalm 118,15 - 16) Platz
gemacht; der Chorsatz ist dem neuen Text angepaßt und eindringlicher
gestaltet. So entstand eine von Glück erfüllte Tanzweise, wie sie Bach
beseligter und strahlender kaum je geschaffen hat. Für die dem
Eingangschor folgenden, von Rezitativen getrennten drei Solonummern
101Vgl. ebd., S. 61 - 64.
58
lieferte Picander den Text. Die erste Arie ist, des Kontrastes zu der
vorangehenden Nummer wegen, dunkel gehalten. Sie wird von einer Baß-
Stimme, begleitet von Kontrabaß und Orgel, bestritten. Von
unwiderstehlicher Süße ist dagegen die zweite Arie für Sopran und
Streicher. Kindliches Gottvertrauen äußert sich in den Worten:
„Gottes Engel weichen nie,
Sie sind bei mir allerenden.
Wenn ich schlafe, wachen sie,
Wenn ich gehe,
Wenn ich stehe,Tragen sie mich auf den Händen."103
In Bachs schlichter und doch auch ekstatischer Vertonung findet der
stimmungsvolle Text wunderbaren Ausdruck. Von einer klaren
Knabenstimme gesungen, muß dieses Stück auf die Gläubigen in St.
Thomas den tiefsten Eindruck gemacht haben. Die dritte Solonummer ist als
Duett zwischen Alt und Tenor gehalten, denen sich als obligates Instrument,
ungewöhnlicherweise, ein Fagott zugesellt. Die freudige Ungeduld der
Seele, die sich wünscht, ihrem Schöpfer gegenüberzutreten, wird durch die
sich nachahmenden und ablösenden Singstimmen und das drängende
Blasinstrument auf das eindringlichste gezeichnet. Obwohl ernster und
männlicher im Charakter, ist dieses Stück dem lieblichen Duett zwischen
Sopran und Alt „Wir eilen mit schwachen, doch emsigen Schritten" in
Kantate BWV 78 geistig verwandt. Für den Schlußchoral verwendet Bach
die dritte Strophe des Kirchenliedes „Herzlich lieb hab ich dich", das er
auch in der Michaeliskantate „Es erhub sich ein Streit" und am Schluß der
Johannespassion herangezogen hatte. Motettenartig verstärken hier Streicher
und Oboen die Singstimmen im Einklang. Nur in den letzten eineinhalb
Takten setzen bei dem Wort „ewiglich" Trompeten und Pauken majestätisch
ein.
102Vgl. ebd., S. 776 - 777.
103ebd., S. 775.
59
2.8 Die übrigen Kirchenkantaten
In den beiden letzten Jahrzehnten seines Lebens scheint Bach nur wenige
Kirchenkantaten geschaffen zu haben. Instrumentalwerke und weltliche
Kantaten standen im Brennpunkt seines Interesses, seit er 1729 das von
Telemann begründete Collegium Musicum übernommen hatte. Andererseits
arbeitete er weltliche Kantaten in Oratorien um, was die Entstehung des
Weihnachts- und des Himmelfahrtsoratoriums in den Jahren 1734 und 1735
zur Folge hatte. Auch führte er seine früheren geistlichen Werke
unverändert oder in Umarbeitungen wieder auf. Die Kantaten, die wir mit
Sicherheit dieser Zeit zuschreiben können, sind von höchstem
künstlerischen Wert, zeigen aber keine stilistische Einheitlichkeit. Fast alle
weisen Züge auf, die bereits in den vorhergehenden Jahrgängen zu
beobachten waren. Nach Alfred Dürr bleiben somit folgende Kantaten
übrig:
BWV 36, 248, 191, 143, 14, 158, 112, 11, 34, 129, 177, 9, 51, 140, 200, 30,
50, 80, 193, 29, 69, 34a, 197, 195, 157, 244a, 192, 117, 97, 100.104
BWV 140, „Wachet auf, ruft uns die Stimme", entstand 1731.105 Ihr
wahrscheinlich von Picander verfaßter Text beruht auf dem schönen
Gedicht Philipp Nicolais, das sich mit der Parabel von den klugen und
törichten Jungfrauen befaßt und sich später einer Schilderung des
himmlischen Zion zuwendet. Im ersten Satz wird der Choral in langen
Noten vom Sopran angestimmt, wozu die tieferen Stimmen ein farbiges
kontrapunktisches Gewebe beisteuern, das eher von den Worten als von der
Melodie des Kirchenliedes seinen Ausgang nimmt. Das Orchester fügt eine
völlig unabhängige Begleitung hinzu, die das feierliche Herannahen des
himmlischen Bräutigams und die freudige Ungeduld der Jungfrauen
schildert. Aus diesen verschiedenen Elementen erwächst ein Klanggebilde
von erlesener sinnlicher Schönheit. In einer zweiten Choralbearbeitung
(Nr. 4) schließt sich der von den Tenören angestimmten Melodie des
Kirchenliedes eine hiervon abweichende Violinweise voll zärtlicher Süße
an, wie man sie nur selten in Bachs Kantaten findet. Sie schildert den Zug
104Vgl. ebd., S. 64 - 66.
105Vgl. ebd., S. 720 - 723.
60
der anmutigen Jungfrauen zum Empfang des himmlischen Bräutigams. In
den dieser Nummer vorangehenden und ihr folgenden beiden Duetten ist der
Choral nicht zu hören, und die Versprechungen, die Christus und die Seele
austauschen, klingen nicht viel anders als die Beteuerungen irdischer
Liebender. Das erste erzielt eine zu Herzen gehende Eindringlichkeit mit
Hilfe des Violino piccolo.106 Das zweite Duett, in dem das gleiche
melodische Material in beiden Stimmen verwendet wird, weist in die
Zukunft, auf die Duette zwischen Gatten und Gattin in Haydns „Schöpfung"
oder Beethovens „Fidelio".
In das Jahr 1731 fällt auch die Ratswechselkantate BWV 29 „Wir danken
dir, Gott".107 Im Hinblick auf den festlichen Anlaß verwendete Bach
Trompeten und Pauken in seinem Orchester. Die einleitende Sinfonia ist
eine Bearbeitung des Preludio aus Bachs Violinpartita Nr. 3 in E-Dur (BWV
1006), wobei ein Orgelsolo die ursprünglich der Violine zugedachte
brillante Partie übernimmt.108
Die folgenden sieben Sätze sind symmetrisch angeordnet. Zwei
Chornummern mit vollem Orchester umgeben drei Arien, die durch zwei
Rezitative verbunden sind, wobei die erste und dritte Arie einander
entsprechen. Der Eingangschor, ein fugenartiges Stück, das Dankgefühle an
den Schöpfer zum Ausdruck bringt, wurde später für das „Gratias agimus"
und „Dona nobis" in der h-Moll-Messe verwendet. Die jubelnde erste Arie,
sowie die dritte, haben den Text „Halleluja, Stärk und Macht". Auch in ihrer
musikalischen Substanz sind sie fast gleich, wenn auch die dritte Arie
wesentlich kürzer ist. Bach hat sie um eine Quart nach oben transponiert
und den Tenorpart der ersten Arie durch einen Alt ersetzt. Auch weicht das
Violinsolo der Tenorarie einem Orgelsolo in der Altarie; damit wird eine
Annäherung an die in der einleitenden Sinfonia geübte Methode erreicht.
Die dazwischen liegende Sopranarie, das Zentrum des ganzen Werks, ist in
106Eine kleinere Abart der Violine, die um eine Terz oder Quart höher gestimmt ist.
107Vgl. Alfred Dürr, Die Kantaten von Johann Sebastian Bach mit ihren Texten, Kassel
1995, S. 809 - 811.
108Doch transponierte Bach nun das Stück einen Ton abwärts, da die Tonart D-Dur besser
für das begleitende Orchester geeignet war und außerdem das hohe e’’’, mit dem das
Violinpräludium beginnt, auf der Orgel nicht vorhanden war. Während das Originalwerk,
eine Art perpetuum mobile in steter Sechzehntel-Bewegung, völlig der Natur des
Instruments angepaßt war, wirkt die Bearbeitung für Orgel weniger geglückt, da die
61
der Form eines wiegenden Siciliano gehalten und beschreibt Gottes liebende
Gnade in einem von idyllischem Frieden erfüllten Stück. Hier wollte Bach
wohl das Gefühl der Geborgenheit ausdrücken, das die Bevölkerung unter
dem neu gewählten Rat genießen würde. Eine ausdrucksvolle Episode findet
sich am Ende des folgenden Seccorezitativs, wenn die Worte des Alt durch
ein vom Chor angestimmtes kraftvolles „Amen" unterbrochen werden. Die
abschließende, einfach harmonisierte Hymne, in der Trompeten am Ende
der Choralzeilen einsetzen, ist auf der Melodie des Chorals „Nun lob, mein
Seel, den Herren" aufgebaut. So drückt die ganze Kantate Dankgefühle an
Gott aus, und dies wird noch verstärkt durch den sanften Frieden, der aus
dem Herzstück des Werkes strahlt.
Ähnliches kommt, wenn auch auf ganz andere Weise, zum Ausdruck in
BWV 51, „Jauchzet Gott in allen Landen", für Solosopran und Orchester,
um 1730 komponiert.109 Ein Sopran von ganz ungewöhnlichem Können
muß Bach zur Verfügung gestanden haben, da die Vokalpartie absolute
Virtuosentechnik erfordert. Auch schrieb er einen fast ebenso schwierigen
Part für die Trompete und schuf auf diese Weise ein ganz einzigartiges
Doppelkonzert. Der Komponist mag selbst den Text beigesteuert haben, der
Verse aus Psalmen geschickt paraphrasiert. In der ersten Arie in
glanzvollem D-Dur wirken die beiden Solisten zusammen mit dem
begleitenden Streichorchester. Die Trompete setzt mit freudigem Eifer ein;
ihr schließt sich bald der Sopran an, der in jubelnden Tönen die ganze
Schöpfung zum Preise des Herrn aufruft. Sehr verschieden von diesem
leuchtenden Barockstück ist die zweite Arie in a-Moll, in der der Sopran nur
vom Generalbaß begleitet wird. Sie ist intimer und inniger im Charakter, da
sich der Text mit dem liebenden Vater, nicht mit dem Herrn der Glorie
befaßt. Diesem ruhigeren Stück mag die Predigt gefolgt sein. Als
Schlußnummer bringt Bach eine Choralbearbeitung in C-Dur; hier baut er in
das polyphone Tricinium von zwei Violinen und Baß den vom Sopran als
vierter Stimme vorgetragenen, leicht ornamentierten Choral als Cantus
firmus ein. Dieses Stück zeigt deutlich, daß für Bach kein Unterschied
schnellen Passagen auf diesem Instrument nicht so gut herauskommen und auch verdeckt
werden, sobald die begleitenden Trompeten ihre Stimmen erheben.
109Vgl. Alfred Dürr, Die Kantaten von Johann Sebastian Bach mit ihren Texten, Kassel
1995, S. 600 - 602.
62
zwischen Vokal- und Instrumentalmusik bestand; die Choralbearbeitung in
dieser Solokantate ähnelt ausgesprochen Stücken, die er für die Orgel
komponierte. Die letzte Nummer erreicht ihren Höhepunkt in dem
mächtigen Alleluja, in dem die Trompete und das volle Streichorchester sich
dem Sopran zugesellen. Die atemlose Dringlichkeit in diesem etwas
theatralischen Stück mit seinen aufleuchtenden Dreiklängen und stürmenden
Koloraturen zeigt, daß Bach bestrebt war, jedes ihm zur Verfügung stehende
Mittel zu verwenden, um den Allmächtigen zu preisen.
1726 schrieb Bach die recht umfangreiche Hochzeitskantate BWV 34a
„O ewiges Feuer, o Ursprung der Liebe", die nicht vollständig erhalten
ist.110 Viel später, möglicherweise zu Anfang der vierziger Jahre, wandelte
er das Werk in eine geistliche Kantate für Pfingsten um, wobei er die
ursprüngliche Partitur etwas verkürzte und die Nummern umstellte. Es war
nicht notwendig, den Text stark zu ändern, da Pfingsten ein Fest der Liebe
ist; die in dem früheren Werk geschilderte warme Zuneigung der Gatten
zueinander konnte leicht als die feurige Liebe der Menschheit zu ihrem
Schöpfer umgedeutet werden. So beginnt die neue Kantate BWV 34 mit
einem Chor, der dem der Vorlage stark ähnelt.111 Es ist ein kraftvolles Stück
in ausgedehnter Da-capo-Form. Trompeten, Pauken, Oboen verstärken den
festlichen Charakter; daneben aber ist das Stück von ungewöhnlicher
Innigkeit. Die folgende Altarie „Wohl euch, ihr auserwählten Seelen" für
zwei Flöten und gedämpfte Streicher hat einen merkwürdig pastoralen
Charakter, wohl im Hinblick auf den Text der Hochzeitskantate „Wohl
euch, ihr auserwählten Schafe". Trotz dieser kleinen Inkongruenz wirkt die
Arie mit ihrem sanften Zauber, der von der Instrumentation und der Wärme
der melodischen Sprache ausgeht, als eine der erlesensten Schöpfungen
Bachs. Der Schlußchor „Friede über Israel", der die festliche
Instrumentation des Anfangs wieder aufnimmt, erscheint kurz im Vergleich
zu dem großartig angelegten Eingangsstück. (In der Vorlage war diese
Nummer von geringerer Bedeutung, da sie nur das Ende des ersten Teiles
darstellte.) Doch sprechen Kraft, Freude und Innigkeit aus diesen
110Vgl. ebd., S. 820.
111Vgl. ebd., S. 403 - 404.
63
Äußerungen eines dankbaren Herzens und bilden so den passenden
Abschluß für eine der liebenswertesten Kantaten des Meisters.
BWV 50 „Nun ist das Heil und die Kraft" zählt zu den Kantaten, deren
Entstehungszeit unbekannt ist.112 Es ist ein aus einem einzigen Doppelchor
bestehendes Fragment, bei dem die übrigen Sätze fehlen. Das Werk war
offensichtlich für den Michaelistag bestimmt. Eine Schilderung des
gewaltigen Kampfes zwischen den Mächten der Finsternis und des Lichtes,
wie wir sie in der Offenbarung des Johannes 12,7 ff. finden, mag
vorangegangen sein. Sieg über die „alte Schlange, die da heißt der Teufel
und Satanas" war schließlich errungen, und eine große Stimme sprach im
Himmel „Nun ist das Heil und die Kraft und das Reich und die Macht
unseres Gottes seines Christus worden". Der errungene Sieg über den Satan
und seine Anhänger durch den Kreuzestod und die Auferstehung Jesu
Christi allein bildet den Text des Bachschen Fragmentes. Der Komponist
hat für den Ausdruck des himmlischen Jubels eine gewaltige Klangfülle
aufgeboten. Zwei vierstimmige gemischte Chöre, drei Oboen, drei
Trompeten, Pauken und Streicher sind herangezogen. Die Anlage der
Komposition ist kompakt und übersichtlich. Der von Bach auch sonst gerne
verwendete Typus der „Permutationsfuge" liegt hier vor, wobei das Thema
und seine Kontrapunkte mehr oder minder unverändert bleiben und durch
Umgruppierung und Stimmentausch verarbeitet werden. „Nun ist das Heil
und die Kraft" besteht aus zwei einander entsprechenden und gleich langen
Teilen. Der erste moduliert von D-Dur nach fis-Moll, der zweite hält im
wesentlichen an der Haupttonart fest. Kurze imitatorische Abschnitte, in
denen sich die Vokalchöre ablösen, folgen den Fugenblöcken und gestalten
die Setzweise abwechslungsreicher. Die Instrumente dienen zur Begleitung
und Füllung, nehmen aber auch an der thematischen Arbeit entscheidenden
Anteil. Mit diesem mächtigen Torso hat uns Bach eines der großartigsten
Stücke der ganzen Chorliteratur geschenkt. Die Ausführenden müssen
jedoch darauf achten, daß das vom Komponisten erstrebte Verhältnis
zwischen Vokalisten und Instrumentalisten nicht durch überstarke
Besetzung der Chöre und allzu gedrängte Aufstellung aller Mitwirkenden
gestört wird.
64
3. Das Weihnachtsoratorium Johann Sebastian Bachs
Als Oratorium113 wird gewöhnlich eine Vokalkomposition größeren
Ausmaßes mit religiösem oder beschaulichem Inhalt bezeichnet, die nicht
für die eigentliche Liturgie bestimmt ist. Oratorien haben meist eine
fortlaufende Handlung, die oft von einem Erzähler (testo, historicus,
Evangelist) vorgetragen wird. Der Name der Gattung geht auf den
„heiligen" Filippo Neri (1515 - 1595) zurück, der im Betsaal (oratorio)
seines römischen Klosters mit Hilfe der von ihm organisierten Bruderschaft
der Oratorianer Gottesdienste populären Charakters abhielt. Aus diesen
religiösen Übungen, die mitunter die Form geistlicher Dialoge annahmen,
entwickelte sich in der Mitte des 17. Jahrhunderts das Oratorium. Es
erreichte alsbald einen Höhepunkt in Italien mit den lateinischen Oratorien
Giacomo Carissimis (1605 - 1674). In Deutschland stehen Heinrich
Schütz’s (1585 - 1672) „Historia der fröhlichen und siegreichen
Aufferstehung [...] Jesu Christi" (Dresden, 1623) und „Historia der
freudenreichen Geburt [...] Jesu Christi" (Dresden, 1664) dem Oratorium
nahe. Diesen großartigen Werken fehlte es an einer direkten Nachfolge, da
die Komponisten der folgenden Generationen im allgemeinen die Pflege der
Passion und der Kirchenkantate bevorzugten. Auch in Bachs Oratorien wird
das kantatenhafte Element betont, während der biblische Bericht mehr in
den Hintergrund tritt. Sie werden damit zu Grenzfällen der Gattung.
Drei Kirchenwerke, die Bach für hohe Feiertage in Leipzig schrieb, wurden
von ihm als Oratorien bezeichnet. Sie alle beruhen auf früheren weltlichen
Kompositionen. Das älteste ist das Osteroratorium (BWV 249) „Kommt,
eilet und laufet", das am 1. April 1725 erklang.114 Das jüngste ist das
Himmelfahrtsoratorium (BWV 11) „Lobet Gott in seinen Reichen", das am
19. Mai 1735 zum erstenmal aufgeführt wurde.115
112Vgl. ebd., S. 778 - 779.
113Vgl. Alfred Dürr, Johann Sebastian Bach, Weihnachts-Oratorium, Meisterwerke der
Musik, hrsg. von Ernst Ludwig Waeltner, Heft 8, München 1967, S. 3 und Ulrich Michels:
dtv-Atlas zur Musik, 2 Bde., hier: Bd. 1, Systematischer Teil, Historischer Teil: Von den
Anfängen bis zur Renaissance, 1977, S. 135 und Bd. 2, Historischer Teil: Vom Barock bis
zur Gegenwart, 1985, S. 323.
114Vgl. Alfred Dürr, Die Kantaten von Johann Sebastian Bach mit ihren Texten, Kassel
1995, S. 314.
115Vgl. ebd., S. 383.
65
Das wichtigste und ausgedehnteste Werk dieser Gruppe ist das 1734
vollendete Weihnachtsoratorium (BWV 248).116 Obwohl es eine Folge von
sechs Kantaten ist, die an den drei Weihnachtstagen, Neujahr, dem
folgenden Sonntag und Epiphanias erklangen, bildet es doch im Aufbau eine
Einheit. Wie in den Passionen werden Stellen aus dem Neuen Testament
(Lukas 2,1 und Lukas 2,3-21; Matthäus 2,1-12)117 von einem Evangelisten
vorgetragen, während die Äußerungen bestimmter Personen den Solisten
und die des Volkes dem Chor anvertraut sind. Bach und Picander, die bei
der Textgestaltung zusammengearbeitet haben dürften,118 unterbrechen
immer wieder die biblische Erzählung mit lyrischen Einschüben wie
Chorälen, Arien oder rezitativartigen, vom Orchester begleiteten Ariosos.
Die Tonartenfolge und die Instrumentation verleihen dem Werk einen
rondoartigen Charakter. Die Kantaten I, III, VI stehen in D-Dur und
verwenden großes Orchester (mit Trompeten, Pauken, Holzbläsern,
Streichern); die Kantaten II, IV, V stehen in den verwandten Tonarten GDur,
F-Dur, A-Dur und gebrauchen keine Trompeten.
Das Weihnachtsoratorium gibt uns eine Möglichkeit, das von Bach
angewendete Parodieverfahren zu studieren. Die folgenden Nummern des
Oratoriums verwenden früher komponierte Sätze aus den weltlichen
Kantaten „Hercules auf dem Scheidewege" (BWV 213), „Tönet ihr Pauken"
(BWV 214) und „Preise dein Glücke" (BWV 215):119
Weihnachtsoratorium: Weltliche Kantaten:
Nr. 1, Chor D BWV 214, Nr. 1, Chor D
Nr. 4, Arie (Alt) a BWV 213, Nr. 9, Arie (Alt) a
Nr. 8, Arie (Baß) D BWV 214, Nr. 7, Arie (Baß) D
Nr. 15, Arie (Tenor) e BWV 214, Nr. 5, Arie (Alt) h
Nr. 19, Arie (Alt) G BWV 213, Nr. 3, Arie (Sopran) B
Nr. 24, Chor D BWV 214, Nr. 9, Chor D
116Eine Einführung zu Bachs Weihnachtsoratorium findet sich u.a. auch bei Walter
Blankenburg, Das Weihnachtsoratorium von Johann Sebastian Bach, München und Kassel
etc. 1982.
117Vgl. Alfred Dürr, Johann Sebastian Bach, Weihnachts-Oratorium, Meisterwerke der
Musik, hrsg. von Ernst Ludwig Waeltner, Heft 8, München 1967, S. 7.
118Vgl. Alfred Dürr, Die Kantaten von Johann Sebastian Bach mit ihren Texten, Kassel
1995, S. 67.
119Vgl. Walter Blankenburg, Das Weihnachtsoratorium von Johann Sebastian Bach,
München und Kassel etc. 1982, S. 22 u. 23.
66
Nr. 29, Duett (Sopran, Baß) A BWV 213, Nr. 11, Duett (Alt, Tenor) F
Nr. 36, Chor F BWV 213, Nr. 1, Chor F
Nr. 39, Arie (Sopran) C BWV 213, Nr. 5, Arie (Alt) A
Nr. 41, Arie (Tenor) d BWV 213, Nr. 7, Arie (Tenor) e
Nr. 47, Arie (Baß) fis BWV 215, Nr. 7, Arie (Sopran) h
Nicht nur der Text ist in jedem Falle erneuert; auch sonst sind kleinere und
größere Änderungen an den Originalen vorgenommen.120 Zwei Beispiele
sollen dies näher erläutern. Die Alt-Arie Nr. 19 des Weihnachtsoratoriums
beruht auf einer Sopran-Arie des „Hercules". Bei der Umarbeitung ergab
sich daher die Notwendigkeit einer Transposition. Überdies wurden im
Sinne des pastoralen Charakters des Oratoriums eine Flöte und vier
Rohrblattinstrumente dem Streicherkörper des Originals hinzugefügt und
die melodische Linie der Singstimme in Einzelfällen charakteristisch
abgeändert. An der Gesamtanlage des Stückes aber wurde nichts geändert,
und sogar die Zahl der Takte ist die gleiche geblieben. Dies wird begreiflich,
wenn man die Textanfänge der beiden Arien vergleicht. In der Kantate wird
dem jungen Hercules ein Schlummerlied gesungen:
„Schlafe, mein Liebster, und pflege der Ruh’,
folge der Lockung entbrannter Gedanken."
Ohne besondere Schwierigkeit konnte die Komposition dieses Textes auch
für Jesu Wiegenlied in dem späteren Werke gebraucht werden:
„Schlafe, mein Liebster, genieße der Ruh’,
wache nach diesem für aller Gedeihen."
Anders war die Sachlage bei der Arie Nr. 4 des Weihnachtsoratoriums, die
im Grundgehalt stark abweicht von dem Vorbild im „Hercules", wie die
nachstehend angeführten Texte darlegen mögen:
Hercules: Weihnachtsoratorium:
„Ich will dich nicht hören, „Bereite dich, Zion,
ich will dich nicht wissen, mit zärtlichen Trieben,
verworfene Wollust, den Schönsten, den Liebsten
120Eine zusammenfassende Besprechung der im Weihnachtsoratorium angewendeten
Parodieverfahren bieten W. Blankenburg und A. Dürr in KB (= Kritischer Bericht) zu NBA
(= J. S. Bach, Neue Ausgabe sämtlicher Werke herausgegeben vom J. S. Bach-Institut
Göttingen und vom Bach-Archiv Leipzig, Kassel 1954 ff.), Serie II, Band 6, (Kassel 1962),
67
ich kenne dich nicht. bald bei dir zu sehn.
Denn die Schlangen, Deine Wangen
so mich wollten fangen, müssen heut viel schöner prangen,
hab ich schon lange eile, den Bräutigam
zermalmet, zerrissen." sehnlichst zu lieben."
In beiden Fällen hat Bach die Arie für Altstimme gesetzt, so daß sich eine
Transposition erübrigte. Dagegen zwang die gefühlsmäßige Verschiedenheit
der Worte den Komponisten zu sonstigen Änderungen. Das Original
verwendet zur Begleitung nur Violine I und Continuo. Im Oratorium fügte
Bach der Violine eine innige Liebesoboe, dem Continuo ein Fagott hinzu.
Gleichzeitig wurde das drohende Staccato der weltlichen Kantate mit Hilfe
von Vorschlägen, Trillern und Bindebogen in eine zärtliche Melodie
verwandelt.
Die sich windende Baßlinie im zweiten Abschnitt des „Hercules", welche
die Schlange versinnbildlicht, war so unauffällig, daß sie unverändert in die
Bearbeitung übernommen werden konnte. Dagegen betont das Ende des
Textes, vor dem Da capo, in der Kantate drohende Gewalt, im Oratorium
jedoch zärtliche Liebe, was Bach nötigte, diese Takte neu zu komponieren.
Immerhin gelang es ihm, mit verhältnismäßig kleinen Retuschen eine
zufriedenstellende Umformung der Arie zu erzielen.
Es ist nicht leicht, angesichts der Fülle der Eingebungen bei diesem
Meisterwerk Einzelnummern den Vorzug zu geben. Alle Abschnitte des
Werkes beginnen mit einem glanzvollen Eingangschor in heiter-tanzartigem
dreiteiligem Takt. Am Anfang des ersten Teiles ertönt ein recht
ungewöhnliches festliches Paukensolo. Obwohl das Instrument hier erklingt,
weil es bereits den ersten Chor der Kantate BWV 214 („Tönet, ihr Pauken")
einleitete, auf den der Eingangschor des Oratoriums zurückgeht, so wirkt es
doch durchaus entsprechend für den strahlenden Beginn der
Weihnachtskomposition. Im zweiten Abschnitt wird der Anfangschor durch
eine Sinfonia ersetzt, ein Siciliano von erlesener Schönheit. Es ist im
Charakter der Pastoralsymphonie in Händels „Messias" verwandt, von der
es jedoch in der komplizierteren Stimmführung und reicheren
S. 200 ff. - Vgl. auch W. Blankenburg, „Das Parodieverfahren im Weihnachtsoratorium J.
S. Bachs" in MuK (= Musik und Kirche) 32 (1962) S. 245 - 254.
68
Instrumentation abweicht, da Holzbläser und Streichergruppen miteinander
abwechseln. Höchst bemerkenswert ist die Behandlung der Choräle.
Dreimal verwendet Bach die Melodie „Vom Himmel hoch, da komm’ ich
her", am Ende der ersten Kantate, in der Mitte und am Ende der zweiten.
Wenn der Chor die Melodie zum drittenmal anstimmt, beschließt das
Orchester jede Zeile mit einem Zitat aus dem innigen Pastorale der Sinfonia,
wodurch Anfang und Ende der zweiten Kantate miteinander verbunden
werden.
Obwohl in dem Oratorium eine freudenvolle Stimmung vorherrscht, spielt
doch der Gedanke an Jesu Opfertod eine wichtige Rolle. Sowohl der erste
wie der letzte Choral des Werkes sind auf der unsterblichen Melodie des
Passionschorals „Herzlich tut mich verlangen" (oft mit dem Text „O Haupt
voll Blut und Wunden" verwendet) aufgebaut, und auf diese Weise bringt
Bach zum Ausdruck, daß nur durch des Heilands Tod die Geburt des
göttlichen Kindes der Menschheit zur Erlösung verhelfen konnte.
4. Christliche Pädagogik
4.1 Pädagogische Situation
4.1.1 Historische Einflüsse
4.1.1.1 Geistige Strömungen
Zwei Grundrichtungen des Denkens haben seit der europäischen Aufklärung
das Bild vom Menschen sowie seine Vorstellung von der Welt maßgeblich
bestimmt. Die eine geistige Strömung geht aus vom deutschen Idealismus
(von Kant bis Hegel), die andere, aus dem Idealismus hervorgegangen,
mündet in den atheistischen Materialismus, der sich von Feuerbach über
Marx, Engels und Lenin bis zu den neueren Vertretern des Neomarxismus,
etwa der „Frankfurter Schule", fortsetzt und sich weiterentwickelt hat.
69
Beide Richtungen empfingen wesentliche Impulse aus dem „neuen"
Menschen- und Weltbild von Jean J. Rousseau. Er hat wesentlichen Anteil
an der Ausformung einer dementsprechenden und seitdem gültigen Moral.
4.1.1.2 Das Menschenbild der Aufklärung
Nach Rousseaus Vorstellung herrscht über der Welt ein „mächtiger und
weiser Wille", der uns Menschen schon von klein auf auszeichnet „durch
Vernunft und Gewissen".
Unsere Schwäche, unser menschliches Versagen ist keine Sünde im
christlichen Sinne, weshalb wir auch „keines Erlösers bedürfen". Hieraus
leitet Rousseau besonders für die Erziehung ein „Eigenrecht der Kindheit"
ab. Bis heute gehen maßgebliche Pädagogen von dieser Voraussetzung aus,
die der Schrittmacher der Aufklärung und geistige Wegbereiter der
Französischen Revolution grundlegend so formuliert hat:
„Das fundamentale Prinzip der Moral ist, daß der Mensch von Natur aus gut
ist und Gerechtigkeit und Ordnung liebt, daß es keine irgendwie geartete
Zwiespältigkeit im menschlichen Herzen gibt und daß die ersten Regungen
der Natur immer richtig sind."
Rousseaus Schüler Pestalozzi war von dem Leitgedanken beflügelt, daß in
dem neugeborenen Kind alle guten Anlagen verborgen seien, die es im Lauf
des Lebens nur noch zu entwickeln gelte. Diese Vorstellung hat die
Reformpädagogik bis in unsere Zeit hin bestimmt. Sie huldigte dem Motto:
Wachsen lassen! Denn „schon das kleine Kind, obgleich unbewußt",
versichert Froebel, „strebt genau und sicher gleichsam wie ein Produkt der
Natur das an, was für es das Beste ist".
70
4.1.1.3 Pädagogik der „3. Aufklärung"
Aus dem Zusammenfügen des geistigen „Bildungsprozesses" des
Idealismus als eines „Sich-selbst-Werdens" des Geistes sowie der
naturgemäßen „Menschenbildung" Rousseaus bildet sich in der
Reformpädagogik eine neue Richtung heraus, die Impulse der
soziokulturellen Strömungen der Zeit mit einer den „natürlichen
Bedürfnissen des Kindes" angepaßten Erziehung verschmilzt. Ursprünglich
war diese pädagogische Richtung auf die freie Entfaltung des „ganzen
Menschen" angelegt und strebte danach, die pädagogische Bedeutung der
„Gemeinschaft" neu zu erschließen, vor allem die „Familie" als
Erziehungsfaktor im Heim wie auch in der „Schulgemeinde", der Eltern,
Lehrer und Schüler angehören, einzusetzen.
In der breiteren pädagogischen Auswertung dieser Idee, vorwiegend im
staatlichen Schulwesen, wurde der Gedanke der „ganzheitlichen" Erziehung
auf eine einseitig rationale Förderung des Kindes eingeengt. Dies war die
Voraussetzung für die sich heute Geltung verschaffende emanzipatorische
Erziehung („3. Aufklärung").
(Zur Erläuterung: 1. Aufklärung: Zeit vor der Französischen Revolution,
2. Aufklärung: Zeitalter der Deutschen Klassik.)
4.1.2 Einflüsse der Moderne
Jede Epoche bringt gleichsam ihre eigenen Krisen hervor, die aus
verschiedenen aktuellen Zeitströmungen entstehen, d.h. mit bestimmten
Entwicklungen der Wirtschaft, mit politischen Kräfteverschiebungen und
ideologischen Einflüssen zusammenhängen.
Noch nie konnte der Zeitgeist, den es zu allen Zeiten gegeben hat, eine
solche Wirkung ausüben wie heute, wo er tagtäglich mit seinen immer
neuen Angeboten und Heilslehren über die Massenmedien in jedes
Wohnzimmer eindringt.
71
4.1.2.1 Emanzipation und Selbstverwirklichung
Ein Wort hat Ende der 60er Jahre unsere junge Generation erfaßt, geistert
bis heute durch unsere Schulen und Hochschulen und verspricht den in
seinen Bann Geschlagenen ungeahnte Schätze: Emanzipation. Dieses
Zauberwort prangt auf den Fahnen aller fortschrittlichen, ideologischen und
politischen Gruppen, steht als oberstes Lernziel Pate für neue
Schulprogramme und ertönt als Lockruf für ganz persönliche Sehnsüchte.
Magazine, Illustrierte und vor allem Film und Fernsehen haben sich als
Anwälte einer ihrer hauptsächlichen Ausprägungen, der sexuellen
Emanzipation, angenommen.
Das Programm, auf das alle Versprechungen hinauslaufen, ist einfach:
Befreiung von jeglichem Zwang, jeder Einordnung, jeder einschränkenden
Verpflichtung, kurz von allen Tabus. Dabei ist die Emanzipation
ursprünglich ein nüchtern rechtlicher Begriff der Römer gewesen. Er
bedeutete die förmliche öffentliche Entlassung des erwachsenen Sohnes aus
der väterlichen Vormundschaft in die Mündigkeit der Selbstbestimmung
innerhalb der von der Gesellschaft gezogenen gesetzlichen Grenzen – zum
Dienst an dieser Gesellschaft. Das Wort erscheint heute aufgebläht, ist aber
in Wahrheit eingeschränkt, weil ohne Bezug zur Gesellschaft, in der wir
leben. Unterschwellig schwingt darin etwas mit von einem persönlich
ertrotzten, selbstherrlichen Anspruch auf absolute Unabhängigkeit und einer
als Menschenrecht getarnten Schrankenlosigkeit.
4.1.2.2 Der „autonome Mensch": Mißverständnis von Freiheit
Ziel der „emanzipatorischen Erziehung" ist der von allen überlieferten
Werten und Bindungen „befreite" Mensch, der nur noch sich selbst als
Maßstab nimmt. Er sucht seine Selbstentfaltung in einer Freiheit, die
losgelöst von allen Ordnungen und Pflichten ist.
Es ist der laut gepriesene „mündige", „selbstverantwortliche", „von allen
Zwängen und äußeren Gesetzen befreite", eben der autonome Mensch.
72
Dieses Ziel, das auf die europäische Aufklärung zwar zurückgeht, erhielt
aber erst von der materialistischen Weltanschauung des 19. Jahrhunderts
seine atheistische Ausrichtung.
Darin zeigt sich das große Mißverständnis unserer Zeit von Freiheit. Denn
Freiheit bedeutet nicht, sich anderen gegenüber „Freiheiten
herauszunehmen". Das wird mit Recht auch von diesen Vertretern selber als
Mißbrauch empfunden. Hier liegt eine Vorstellung von Freiheit zugrunde,
die ihre Grundlage verloren hat. Am Ende steht die Auflösung aller sozialen
Bindungen und moralischen Verpflichtungen. Der so in die Irre geleitete
Mensch wird sich selbst und anderen zum „Abgrund", vor dem er sich zu
fürchten beginnt. Hierin kommt die Aufklärung zu ihrem zwangsläufigen
Ende.
4.1.2.3 Verlust der ethischen Werte und des Konsenses
Befreiung – und daraus folgend Freiheit – braucht ein Ziel und einen
Spielraum. Sie bedeutet Erweiterung der eigenen Verantwortlichkeit, nicht
aber Beseitigung jeglicher Verantwortung.
Keine Gesellschaft kommt ohne allgemein anerkannte Übereinkunft und
ohne Vertrauen in die sie tragenden Institutionen und rechtlichen wie
sittlichen Ordnungen aus. Wird kritisches Hinterfragen, vor allem bei
jungen Menschen, als einzige Möglichkeit der Auseinandersetzung
eingeübt, dann geht die Fähigkeit allmählich verloren, Gemeinsames
überhaupt noch zu erkennen.
4.1.2.4 Wissenschaftsgläubigkeit und Ideologie
Mit der Übertragung der aus dem Rationalismus kommenden
positivistischen Denk- und Verfahrensweisen des naturwissenschaftlichen
Bereichs auf alle anderen Lebensgebiete ist eine unbegründete
Wissenschaftsgläubigkeit erzeugt worden. Damit ist zugleich weitgehend
73
der Zugang zu allen außerhalb des materiellen Bereichs liegenden
Zusammenhängen und Problemen verschlossen worden. Diese Haltung
verbindet sich häufig mit ideologischen Heilslehren, die ebenfalls auf ihrem
Etikett Wissenschaftlichkeit behaupten.
Da die Menschen angesichts der allgemeinen Ratlosigkeit gegenüber den sie
bedrängenden Weltproblemen wie Ertrinkende nach Rettung Ausschau
halten, treffen diese Pseudoheilslehren auf offene Ohren. Da sie deren
utopischen Charakter noch nicht durchschauen können, zeigen gerade
Jüngere eine ausgeprägte Empfänglichkeit für rigorose Lösungen. Je
geschlossener das System ist, das diese komplizierte und verworrene Welt
auf eine einfache überschaubare Formel bringt, desto schneller geraten sie in
seinen Sog. Kritische Gegenargumente verfangen nur schwer, im
Anfangsrausch überhaupt nicht, da ihnen ein von der Technik suggeriertes
Gefühl, heute sei alles machbar, die Grenzen des Möglichen verwischt.
So hat z.B. der marxistische Materialismus mit seinen ökonomischen und
gesellschaftlichen Patentlösungen eine solche Faszination auf die jüngere
Generation ausgeübt, daß sich seine verbalen und gedanklichen Schablonen
schon unbewußt in das Reden und Denken unserer Schüler und Studenten
eingeschlichen haben, wie zuvor die aufklärerischen Schablonen in das
Denken der vom Humanismus begeisterten Generation.
4.1.2.5 Identitätskrise und Konfliktdenken
Vielfach ist „Tradition" heute zu einem negativen Reizwort geworden.
Deshalb erscheint vielen ein Anknüpfen an überkommene
Lösungsmöglichkeiten sinnlos.
Das erschütterte Vertrauen in die überkommenen Werte einer Gesellschaft
hat zwangsläufig zu einer Identitätskrise der Menschen im technischen
Zeitalter geführt. Im persönlichen Bereich wird sie deutlich erkennbar in
einer rapiden Zunahme der Neurosen und Psychosen, im gesellschaftlichen
Bereich findet sie ihren sichtbaren Ausdruck in einer umfassenden
Generationenkrise. Sie ist nicht zu verwechseln mit dem notwendigen
74
Prozeß menschlicher Reifung und Persönlichkeitsentwicklung, sondern tritt
als sozialpolitisches Phänomen des Generationsbruchs („generation gap") in
Erscheinung. Er ermöglicht erst die generelle Infragestellung aller bisher
gemeinsamen Werte.
Ausdruck dieser Identitätskrise ist im pädagogischen Raum das Denken in
Konflikten. Es ist Ergebnis einer „emanzipatorischen" Lebensform, als deren
einziger Zweck die „Veränderung" erscheint. Diese wurde weithin das Ziel
einer „zeitgemäßen" Erziehung. Ihre Vertreter haben eine regelrechte
„Konfliktstrategie zur Befreiung des Menschen" entworfen. Sie soll nicht
nur im politischen, sozialen und ökonomischen Bereich angewandt werden,
sondern vor allem im pädagogischen Bereich Eingang finden und in den
Schulen den Kindern als Grundhaltung ihres Lebens eingeprägt werden.
4.2 Christliche Erziehung
Die staatlichen Schulen sind in ihrem Bildungsauftrag eingeengt worden,
weil sich unsere pluralistische Gesellschaft immer stärker in Gruppen
aufspaltet. Daher beschränken sie sich in ihrem Lehrangebot einerseits auf
reine Wissensvermittlung und ersetzen andererseits Normen und Werte
durch Ideologien. Deshalb besteht bei der Bewertung wichtiger
charakterlicher Eigenschaften wie Fleiß, Höflichkeit, Ordnungsliebe weithin
große Unsicherheit, und über ethische Wertsetzung und Ziele läßt sich kein
Konsens mehr herstellen.
Ein großer Teil der Elternschaft ist aufgrund eigener Erfahrung mit dieser
Entwicklung hellhörig geworden und fordert eine Änderung der
pädagogischen Situation. Zwar ist eine Rückbesinnung auf die Grundlagen
der humanistischen Bildungstradition seit einiger Zeit festzustellen. Aber
das bedeutet, die Fehlentwicklung noch einmal durchlaufen zu wollen. Ohne
eine Bindung an Gott ist der sittlich reife, rücksichtsvolle und
verantwortungsbewußte Mensch eine Illusion.
75
4.2.1 Die Bibel als Grundlage
Aus dem bedrohlichen Gegensatz zwischen einer in Gruppen zerstrittenen
Gesellschaft mit weiter fortschreitender Desintegration auf der einen Seite
und einer für alle verbindlichen staatlichen Schule auf der anderen, der man
keine allgemeingültigen Maßstäbe mehr zubilligt, erwächst zwangsläufig
die Notwendigkeit von Schulen in freier Trägerschaft, die sich für
bestimmte Werte und Erziehungsziele noch entscheiden können.
Diesen Auftrag kann eine freie christliche Schule erfüllen. Frei heißt:
unabhängig von Staat und Kirche; christlich kann nur heißen: abhängig von
der Bibel als Gottes Wort. In einer solchen Schule ist also die Bibel
Grundlage für Bildung und Erziehung. Das heißt: Schule muß völlig neu
konzipiert werden, indem die Bibel für alle Unterrichtsfächer sowie für das
Schulleben im ganzen relevant wird. „Frei" heißt deshalb nicht nur
weitgehende Freiheit von staatlichen Vorgaben, sondern auch
Inanspruchnahme der Freiheit, zu der uns Jesus Christus befreit hat: „Wenn
euch nun der Sohn Gottes frei macht, so seid ihr wahrhaft frei" (Johannes
8,36).
4.2.2 Das Menschenbild der Bibel
Christliche Erziehung stützt sich in ihrem anthropologischen Ansatz auf das
Bild vom Menschen, wie es die Bibel vorstellt. Die Bibel enthüllt klar und
unmißverständlich das Spannungsverhältnis, in dem das menschliche
Dasein abläuft.
1. Der Mensch ist kein zufälliges Produkt der Materie, sondern Schöpfung
Gottes, mit Vernunft und Willen ausgestattet. Ursprünglich war er „zum
Bilde Gottes" geschaffen (1. Mose 1,26) und lebte in Harmonie mit
seinem Schöpfer.
In diesem ungetrübten Verhältnis zu Gott war er nach Gottes Urteil gut,
handelte in wahrhafter Gerechtigkeit und war erfüllt von Liebe und
Vertrauen. Nach Gottes Plan sollte er die Schöpfung bauen und
76
bewahren. Seine Gottesebenbildlichkeit hob ihn aus aller Kreatur hervor,
damit verbunden seine Fähigkeit der Sprache, durch die er auch für Gott
ansprechbar war.
2. Zum anderen ist er nach seinem Abfall von Gott „Fleisch" (Jesaja 40,6),
d.h. vergänglich. Als hilfloses, schwaches, geistig unentwickeltes, auf
lange Sicht erst noch zu erziehendes Wesen wird er geboren und nähert
sich dann wieder im Alter fast ebensolchem hilfebedürftigen Zustand.
Kein Wesen ist derart auf Lernen, auf Übernahme von Erfahrungen und
Kenntnissen angewiesen wie der Mensch – „homo educandus" ist nicht
nur eine Möglichkeit, sondern eine Notwendigkeit.
3. Entscheidend wird sein Leben von der Tatsache bestimmt, daß er ein
durch Schuld und Sünde (Ab-sonderung) von Gott getrenntes Wesen ist,
das unter Gottes Gericht steht. Obwohl er in die Irre geht, sucht er
seinen Ursprung und wird von Gott gesucht. Seine von Gott abgefallene
Natur bewirkt, daß „das Dichten und Trachten des menschlichen
Herzens böse ist von Jugend auf" (1. Mose 6,5).
Die Erlösungsbedürftigkeit des Menschen wird deutlich in seinem
natürlichen, gottlosen Zustand der Unfreiheit, der Gebundenheit an
Begierde und Süchte, der Verstrickung in zügellosen Lebenswandel,
Hörigkeit gegenüber falschen Heilslehren und Gläubigkeit an die
Machbarkeit aller Dinge durch seine irregeleitete Vernunft. In Jesus
Christus wird ihm die Errettung aus seiner Verlorenheit angeboten, die
ihm die Gotteskindschaft und die Gemeinschaft mit Gott schenkt.
4. Die Bibel zeichnet den Menschen als fähig zur Entscheidung, der wissen
kann, was gut ist und was er eigentlich tun sollte (Römer 1,19-21.32;
Römer 2,14.15), der aber auch immer wieder entdeckt, daß er nicht nach
diesem Wissen handelt und seine Bestimmung verfehlt. Alles eigene
Streben, alle eigene Leistung und Erziehung, alles Lernen und Studieren
in seiner Gottesferne vergrößern diese Kluft zwischen Anspruch und
Wirklichkeit.
5. Nur Gott kann ihn so verändern, daß er nach seiner guten Einsicht auch
lebt und handelt. Das geschieht durch die Annahme des
Rettungsangebotes im Glauben an Jesus Christus, wodurch er mit Gott
versöhnt, von Sünde, Schuld und der Bindung an die Welt (1. Johannes
77
2,15-17) befreit und zu einer Neuschöpfung wird, die durch Gottes Geist
mit Gott verbunden ist.
6. Diese Befreiung führt ihn in die Gemeinde der durch Christus Erlösten,
macht ihn fähig, seine Mitmenschen anzunehmen, zu lieben und ihnen
zu dienen. Sie führt zu verantwortlichem Handeln und biblisch geprägter
Einflußnahme in Erziehung, Kultur, Wissenschaft, Politik und
Wirtschaft.
7. Im Stande seiner „neuen Kreatur in Christus" (2. Korinther 5,17)
erkennt der Mensch den ihm vom Schöpfer erteilten Auftrag für diese
Welt wieder. Dennoch bedarf er ständig der göttlichen Leitung, ohne die
er vor Verfehlungen nicht sicher ist. Nach Gottes Plan soll dieser
fehlbare und gebrechliche Mensch „die Erde besitzen" (Matthäus 5,5)
und Stellvertreter Gottes in der Schöpfung sein, der zugleich in der
Verantwortung vor diesem Gott steht. Das autonome, aufgeklärte
idealistische Verständnis eines abstrakt perfekten Menschen ist
demgegenüber unrealistisch.
4.2.3 Erziehungsauftrag aus der Bibel
Lehren, erziehen und unterweisen sind nach der Bibel vorrangige Aufgaben
und Pflichten der Eltern ihren Kindern gegenüber (5. Mose 11,19; Sprüche
4,5; Psalm 78,2-7; Markus 10,14; Epheser 6,1-4). Ebenso trägt auch die
Gemeinde Verantwortung gegenüber der jungen Generation. Erziehung und
Unterweisung gehören zu den Grundvoraussetzungen für das Erwachsen-
und Mündigwerden der jungen Menschen. Im Alten Testament bezog sich
dieser Auftrag in erster Linie auf die Kenntnis und Verinnerlichung der
Gebote Gottes, sie sind „der Weg zum Leben", sie sind das tragende Gerüst
dieser von Gott geschaffenen und abgefallenen Welt und des darin
ablaufenden menschlichen Lebens.
Erziehung im Sinne der Bibel erfordert besondere Weisheit, die in der
Achtung und Ehrfurcht vor Gott ihre Quelle hat. Insofern ist „die Furcht
78
Gottes aller Weisheit Anfang" (Sprüche 9,10), sie wird nur durch die
Wiedergeburt geschenkt (1. Korinther 1,30).
4.2.4 Leitlinien christlicher Erziehung
1. Erziehung zur Wahrhaftigkeit ist die Voraussetzung einer freien
Persönlichkeitsbildung und –entfaltung
Sie erstreckt sich auf:
a) Wahrhaftigkeit vor Gott;
b) Wahrhaftigkeit vor sich selbst;
c) Wahrhaftigkeit vor dem Mitmenschen.
Da die Hinwendung zur Wahrheit uns allein befähigt, Gottes Stimme zu
vernehmen (Johannes 18,37), ist sie das Eingangstor zu einer christlichen
Existenz überhaupt, zu der Möglichkeit, Gottes Kind zu werden.
2. Erziehung zum Eintreten für die Wahrheit führt zur Verantwortlichkeit
und Mündigkeit
Freimütiges Eintreten für die Wahrheit ist nur dort möglich, wo Gottesfurcht
an die Stelle der Menschenfurcht getreten ist. Das geschieht durch die von
Angst und Furcht befreiende Bindung an Jesus Christus. Liebevolles
Begleiten und Ermutigen der Kinder durch Eltern und Lehrer ist nicht nur
für den einzelnen, sondern auch für die Gesellschaft von entscheidender
Bedeutung.
3. Erziehung zur Lebenserfüllung durch Selbstaufgabe
Hier ist ein Geheimnis angesprochen, wie erfülltes Leben entdeckt wird. Es
wird nur erreicht durch Aufgabe der natürlichen Selbstverwirklichungs-
79
bestrebung (Matthäus 16,26) und durch Lebensübereignung an Jesus
Christus.
Dazu gehört auch die Erziehung zur Achtung vor Gott und dem Nächsten,
zur Friedfertigkeit, zur tätigen Liebe und Hilfsbereitschaft. Dieser
Erziehungsprozeß erstreckt sich über einen langen Zeitraum. Mit
zunehmendem Alter müssen dem Heranwachsenden die Teilziele als
Wirkungen der eigentlichen Grundlage aller echten Gemeinschaft unter
Menschen deutlich werden: der Gemeinschaft mit Gott.
Erst in der Gemeinschaft und in Verbindung mit Gott und Gottes Wort
werden im Menschen die Impulse und Kräfte geweckt, die ihn vom
egozentrischen Leerlauf befreien, so daß er sich in diakonischer Weise
seinen Mitmenschen zuwenden kann. Denn die Früchte des Umgangs mit
Gott und mit Gottes Geist sind: Liebe, Freude, Friede, Geduld,
Freundlichkeit, Gütigkeit, Vertrauen, Sanftmut, Keuschheit (Galater 5,22).
4. Erziehung zur Vertrauensfähigkeit ist die Voraussetzung einer positiven
Einstellung zu den Mitmenschen und zu Gott
Vertrauen ist ein spezifisch christliches Lebenselement. Die Ursache alles
wahren Vertrauens ist die Glaubensbindung an Jesus Christus. Nur wer
Vertrauen erfahren hat, kann später Vertrauen schenken. Das entscheidende
Erlebnis der ersten Lebensjahre sollte die Erfahrung entgegengebrachten
Vertrauens sein. Ohne erlebtes Vertrauen wächst auch kein Selbstvertrauen.
Mangel an entgegengebrachtem Vertrauen erzeugt Unsicherheit sowie
Mißtrauen im gesamten späteren Verhalten.
Vertrauen aber eröffnet erst dem Menschen die Möglichkeit, aus dem
sogenannten „Geworfensein" (Heidegger) in die Welt der Angst in das
Geborgensein vertrauender Liebe zu gelangen.
Es ist erwiesen, daß die zunehmende Frustration und Vereinsamung gerade
junger Menschen aus einem Mangel an entgegengebrachtem Vertrauen
herrühren.
80
5. Erziehung zum Gehorsam ist praktische Hilfe zum Leben mit Gott
Vertrauen zu Gott und Gehorsam ihm gegenüber sind untrennbar
miteinander verbunden. Das Vertrauen zu Gott ist die einzige tragfähige
Grundlage für den Gehorsam. Der Gehorsam wiederum ist die
unverzichtbare Konsequenz und der Beweis eines lebendigen Vertrauens zu
Gott. Ein Glaube zu Gott, der nicht konkret zur Verhaltensänderung und
zum Gehorsam gegen Gott führt, ist eine Illusion.
Eine wichtige Hilfe für den vertrauenden Gehorsam des Kindes gegenüber
Gott ist die Einübung in den Gehorsam den Eltern und Erziehern gegenüber.
Darin liegt die eigentliche Bedeutung des Gebots: „Ihr Kinder, seid
gehorsam euren Eltern in dem Herrn!" (Epheser 6,1). Eine solche
Gehorsamsforderung steht daher in Übereinstimmung mit der göttlichen
Absicht. Sie erwächst aus der Liebe zum Herrn und zum Kind und beachtet
seine Persönlichkeit, darf jedoch niemals als Manipulation des Kindes
mißverstanden oder mißbraucht werden.
6. Erziehung zur Bejahung der Ganzheitlichkeit des Menschen und zur
Selbstannahme als Geschöpf Gottes
Über die Störung der Einheit von Geist, Seele und Leib gibt die Bibel
mannigfache Auskunft, über ihre Wiederherstellung geben uns die
Krankenheilungen Jesu Aufschluß. Schon kleine Gewichtsverschiebungen
wirken sich folgenschwer aus. Den Extremfall können wir bei Süchtigen
aller Art beobachten. Aber schon Eigenwilligkeit und Irrwege in der
Lebensführung können zu Neurosen führen.
Viele Störungen der Persönlichkeit lassen sich bis in die früheste Kindheit
zurückverfolgen und enthüllen oft schwere erzieherische Fehler und
Mißgriffe. Auf diesem Gebiet ist Versäumtes nur schwer
wiedergutzumachen.
Das Bibelwort: „Nehmet einander an, so wie Christus uns angenommen hat"
(Römer 15,7) ist zugleich eine Anweisung, die es meinem Nächsten
81
erleichtert, sich selbst in aller Begrenztheit und Beschränkung als Gabe
Gottes anzunehmen.
7. Erziehung zu Leistungsfähigkeit und Kreativität ist Voraussetzung für
eine aktive Mitarbeit in Gemeinde und Gesellschaft
Im Gleichnis von den anvertrauten Pfunden (Lukas 19,12-27) wird deutlich,
wie der Herr von seinen Jüngern den Einsatz ihrer Gaben erwartet, bestätigt
und belohnt. Der Auftrag gilt bis heute: „Handelt, bis ich wiederkomme!"
(Lukas 19,13).
Liebe aktiviert dazu, erfinderisch zu sein mit helfender Tat. An dem Bild der
„Stillen im Lande", das im Grunde nur die Geduld und Leidensfähigkeit der
Christen hervorhebt, haben sich viele Christen falsch orientiert und viele
Nichtchristen falsch informiert. In dieses mißverstandene Bild vom Christen
mischte sich die Vorstellung vom zaghaften, unentschlossenen, wenig
aktiven oder gar untätigen Frommen, der nur so gerade über die Runden
kommen will. Die Geschichte der Gemeinde Jesu Christi bezeugt etwas
ganz anderes: Menschen, die durch Jesus Christus beauftragt wurden,
dienen in selbstlosem Einsatz ihren Mitmenschen in Gemeinde und
Öffentlichkeit, in Diakonie und Mission.
8. Erziehung zu Geduld und Duldsamkeit ist die einzige Möglichkeit zur
Humanisierung des Lebens
Geduld als Auswirkung biblischen Glaubens bewirkt Hoffnung für den
Mitmenschen. Für ihn gilt Gottes Wille, „daß allen Menschen geholfen
werde und sie zur Erkenntnis der Wahrheit kommen" (1. Timotheus 2,4).
Geduld und Nachsicht machen Gemeinschaft unter Menschen erst möglich.
Ohne diese Eigenschaften müssen sie im „Ersten Kreis der Hölle" leben
(Solschenizyn).
82
9. Erziehung zu Ausdauer und Verzicht ist die Voraussetzung für die
Ausbildung der Willenskräfte
Menschliche Tugenden haben nicht ihren Wert in sich selbst, sondern
erfüllen sich nur im biblischen Kontext: „Trachtet am ersten nach dem
Reich Gottes und nach seiner Gerechtigkeit, so wird euch solches alles
zufallen" (Matthäus 6,33).
Eine der größten Gefahren unserer im Wohlstand aufwachsenden Jugend ist
der Verlust der Fähigkeit, Augenblicksgenuß und kurzlebige
Annehmlichkeiten zurückzustellen, um übergeordnete, weitergespannte
Ziele, wie etwa eine lange dauernde Berufsausbildung, durchzustehen.
Wer gelernt hat, um größerer Ziele willen den kleinen Verlockungen zu
entsagen, das Augenblicksvergnügen hintenan zu stellen, dem erschließt
sich erst das Geheimnis, „ein erfülltes Leben zu führen trotz vieler
unerfüllter Wünsche" (Bonhoeffer).
Die Willenskräfte werden nicht durch Triebbefriedigung erworben, sondern
gerade im Beherrschen der Triebe und Begierden.
10. Ihr seid das Licht der Welt – das eigentliche Ziel christlicher Erziehung
Diese Bestimmung Jesu für seine Jünger (Matthäus 5,14) ist von
übergreifender Bedeutung. Licht der Welt sein setzt voraus, daß der einzelne
sich erziehen und ausbilden läßt zu fruchtbarer Arbeit, zu der ein mit Gott
verbundener Mensch befähigt wird (2. Timotheus 3,17). Sie schließt sowohl
den missionarischen als auch den diakonischen Auftrag des Evangeliums
mit ein.
In dem Bild vom Menschen, dessen Licht sich für die anderen im Leuchten
verzehrt, erschließt sich uns zugleich Jesu tiefgehende Anweisung: „Wer
sich nur um sein eigenes, egoistisches Leben bemüht, dem wird es unter den
Händen zerrinnen. Wer aber sein Leben dahingibt um Christi willen, der
wird es in Wahrheit finden" (Matthäus 10,39).
83
5. Christliche Privatschulen
5.1 Historische Wurzeln
Die Neugründung und der Betrieb christlicher Schulen auf bewußt
biblischer Grundlage ist keine Idee, die erst in unserer Zeit aufgekommen
ist. Wir stehen als (vorläufig) letztes Glied in einer Kette solcher Schul- und
Bildungskonzeptionen und dürfen ein geschichtliches Erbe bewußt
aufgreifen, um es neu fruchtbar zu machen für unsere Zeit und Lage.
Beispielhaft sollen als historische Wurzeln aufgegriffen werden: Luther,
Francke, Comenius und Dörpfeld, die jedoch nicht in allen Einzelheiten
ohne Einschränkung übernommen werden können.
5.1.1 Martin Luther (1483 – 1546)
Die Reformatoren – allen voran Martin Luther – hatten großes Interesse an
einer christlichen Schule. Das Wort Gottes sollte jedermann zugänglich
gemacht und von jedermann gelesen werden können, nachdem es in
deutscher Übersetzung vorlag. Zwar machte Luther in seinen Schriften
deutlich, daß der Auftrag zur Erziehung und auch zur biblischen
Unterweisung der Kinder aufgrund der Schöpfungsordnung den Eltern
erstlich zukommt, ja ihre heiligste und wichtigste Pflicht ist. Kein Stand hat
sonst diese Doppelaufgabe des weltlichen und geistlichen Regiments. Da
jedoch diese Aufgabe weithin Fähigkeit und Willigkeit der Eltern übersteigt,
kommen andere Erzieher als Helfer in Betracht. Luther denkt dabei vor
allem an Lehrer und an die Schule.
Eltern sollen sich zusammenschließen und verantwortliche Schulträger
werden. Wie gründlich er diese Sache durchdacht hat, zeigt die „Leisniger
Ordnung" der Jahre 1522/1523, als er in Leisnig eine auf dem Prinzip der
„Hausvätergenossenschaft" gegründete Schulgemeinde starten wollte.
Säulen dieser Schulgemeinde sollten sein:
84
a) Die Eltern, die durch eine „christliche Hausväterschaft" repräsentiert
waren. Das Verwaltungsorgan war der jährlich neu zu wählende
Ausschuß der zehn Vorsteher.
b) Die politische Gemeinde, die eine Mitverantwortung zu übernehmen hat
– jedoch nicht die primäre Verantwortung.
c) Die Kirche, deren Mitverantwortung begründet ist in dem christlichen
Charakter der Schule und in der Notwendigkeit einer sachkundigen
Beratung der Schulvorsteher (= Eltern) bei der Besetzung der
Lehrerstelle und bei der Schulaufsicht. Für Beratung und Schulaufsicht
kam damals im allgemeinen nur der Pfarrerstand in Betracht.
Dieser wahrhaft reformatorische Versuch scheiterte am kleinlichen
Verhalten der einzelnen Partner. Deshalb wandte sich Luther 1524 an die
weltliche Obrigkeit, damit sie die von ihm dringend gewünschten
christlichen Schulen einrichten sollten: „An die Ratsherrn aller Städte
deutschen Landes, daß sie christliche Schulen aufrichten und halten sollen."
Luther sieht in der Reformationszeit eine Gnadenstunde Gottes
(„Platzregen"), die es zu nützen gilt. „Denn wir möchten doch unsere
Kinder nicht nur leiblich, sondern auch geistlich versorgen." Vehement setzt
er sich für das Erlernen der Sprachen (Latein, Griechisch, Hebräisch) ein,
um die Bibel gründlich studieren zu können und sie unverfälscht und rein zu
haben. Nur durch gründliche Sprachenkenntnis werde falsche
Bibelauslegung entlarvt und würden Irrtümer bekämpft (2. Timotheus 3,16).
Zudem seien Schulen nötig, „um die Welt und auch die weltlichen Stände
äußerlich zu erhalten", daß Männer „Land und Leute gut regieren" und
Frauen „Haus, Kinder und Gesinde" sorgfältig erziehen können. Durch das
Studium der Geschichte und anderer Wissenschaften, gepaart mit
Gottesfurcht, werde man klug und könne auch andere beraten und regieren.
Die Kinder – auch die Mädchen! – sollen auch Singen, Musik und die ganze
Mathematik lernen, Hand in Hand mit dem Erlernen eines Handwerks.
Christliche Schulen sind nach Luther nötig, um der jungen Leute und um
der weltlichen und geistlichen Stände willen. „Wir brauchen Leute, die uns
Gottes Wort predigen [...] und Seelsorger sind im Volk. Woher wollen wir
sie aber nehmen, wenn man nicht christliche Schulen gründet?"
85
Darum gilt Luthers Forderung auch heute noch: „Laßt das Werk euch am
Herzen liegen, das Gott so dringend von euch fordert [...]."121
5.1.2 August Hermann Francke (1663 – 1727)
Franckes Werk ist für die Zeit, in der er lebte, überaus bemerkenswert. Als
Francke seine Schulen gründete, ging nur zur Schule, wer es sich leisten
konnte. Sein Einfluß bewirkte, daß der gläubige König Friedrich Wilhelm I.
im Jahre 1717 die allgemeine Schulpflicht in Preußen verkündete.
Mit Franckes „Seminarium Praeceptorum" und „Seminarium Selectum
Praeceptorum" wurde der Grundstein für die geordnete Lehrerbildung in
Deutschland gelegt. Dadurch, daß die Realien und die praktischen Fächer
für Francke von Bedeutung waren, wurden fruchtbare Ansatzpunkte für die
Entwicklung der Realschule gegeben.
Francke versuchte, die Bildung wieder auf die Basis der Bibel zu stellen. Er
schaffte während seines Rektorats in Halle den aristotelischen Eid ab, der
alle Universitätslehrer in Europa zur „Verteidigung und Fortpflanzung der
alten und wahren, d.h. der aristotelischen Philosophie" verpflichtete.122
5.1.2.1 Die Entstehung der Franckeschen Stiftungen
Vier Taler und 16 Groschen waren nach Franckes eigenen Aussagen das
Startkapital für die Gründung einer Armenschule. Das war im Frühjahr
1695. Schon im Jahr zuvor hatte Francke begonnen, die verwahrlosten
Kinder, die einmal wöchentlich zur Almosenverteilung zu ihm kamen, zu
unterrichten, da er, als er ihnen anfangs einige Fragen aus dem Katechismus
vorgelegt, eine große Unwissenheit festgestellt hatte. Nachdem er nun die
für damalige Begriffe hohe Spende erhalten hatte, kaufte er für zwei Taler
121 Vgl. Martin Luther, An die Ratsherrn aller Städte Deutschlands, daß sie christliche
Schulen aufrichten und unterhalten sollen. Wittenberg 1524. In: Martin Luther,
Ausgewählte Schriften, Band V, Frankfurt 1982.
Vgl. Ivar Asheim, Glaube und Erziehung bei Luther. Heidelberg 1961.
86
Bücher und stellte einen armen Theologiestudenten als Lehrer ein. Die
Kinder wurden mit Almosen versorgt. Schon bald interessierten sich auch
wohlhabende Bürger für die Schule und wollten ihre Kinder gegen
Bezahlung von Schulgeld dorthin schicken. Francke richtete daraufhin eine
Armen- und Bürgerschule ein. Bis Ende 1695 hatte er schon 50-60 Schüler.
Die Zahl der Studenten, die Francke unterstützte, wuchs ebenfalls. Im Laufe
des Jahres erkannte er, daß er nichts erreichen konnte, wenn die Schüler
außerhalb der Schulzeit weiterhin Einflüssen, die seiner Erziehung
entgegengesetzt waren, ausgesetzt blieben. Darum beschloß er, ein Internat
und ein Waisenhaus zu gründen. Eine Spende von 500 Talern half ihm, den
Anfang zu wagen. Er begann mit vier Waisen, die er bei Bekannten
unterbrachte und in der Schule unterrichten ließ. Ende 1695 waren es bereits
neun. Heinrich Neubauer, später ein wichtiger Helfer Franckes, wurde zu
ihrem Aufseher ernannt. Francke kaufte im Frühjahr 1696 ein Haus, ließ
zwei Zimmer anbauen und die inzwischen zwölf Waisen darin unterbringen.
Neben der Armen- und Bürgerschule, auch „Deutsche Schule" genannt,
wurde eine „Anstalt zur Erziehung des Herrenstandes, Adliger und anderer
fürnehmen Söhne und Töchter" eingerichtet, die 1702 durch königliches
Privileg „Paedagogium Regium" genannt wurde. In diesem Internat wurde
der künftige „Beamten- und Regierstand" erzogen. Im Jahre 1697 eröffnete
Francke die Lateinschule, die mit altsprachlichem Unterricht zum Studium
führte.
Obwohl das Schulsystem an das Drei-Stände-Schema angelehnt war, waren
Standesschranken für Francke keine unüberwindlichen Grenzen. Im
Paedagogium Regium z.B. wurden Kinder von Adeligen und Bürgerlichen
gemeinsam erzogen. Auch die Waisenkinder erhielten eine ihrer Begabung
entsprechende Ausbildung.
1698 legte Francke den Grundstein zum Neubau eines Waisenhauses. Dazu
hatte er sich zuvor Anregungen aus Holland geholt. Zum Waisenhaus
kamen dann eine Apotheke und eine Buchhandlung hinzu, die 1701 zur
Medikamentenexpedition und Buchdruckerei ausgeweitet wurden. Auch
Manufakturprojekte, eine eigene Brauerei und ein Großhandel kamen zu
122 Vgl. Friedrich Paulsen, Geschichte des gelehrten Unterrichts, Bd. 1, S. 544.
87
dem durch Steuerprivilegien geförderten wirtschaftlichen Großunternehmen
hinzu.
Für die Studenten, die als Lehrer („Praeceptoren") in seinen Schulen tätig
waren und zwei Stunden Unterricht pro Tag hielten, richtete Francke
„Freitische" ein. Sie bildeten das „Seminarium Praeceptorum". „Ihre
Zurüstung für den Unterricht bestand anfänglich nur aus schriftlichen
Instruktionen. Die Seminaristen waren verpflichtet, beieinander im
Unterricht zu hospitieren, in häufigen Konferenzen ihre Arbeit zu
besprechen und ein Diarium zu führen." Aus dem „Seminarium
Praeceptorum" suchte er begabte Studenten aus, um ihnen im 1707
gegründeten „Seminarium Selectum Praeceptorum" eine zweijährige
Ausbildung zukommen zu lassen. Danach wurden sie für drei Jahre zum
Unterricht am Paedagogium oder an der Lateinschule verpflichtet. Das
waren die Anfänge einer geordneten Lehrerbildung überhaupt.
Die Größe der Franckeschen Stiftungen in Franckes Todesjahr war
beachtlich: 98 Lehrer und acht Lehrerinnen unterrichteten 1725 Schüler in
den deutschen Schulen, 32 Lehrer und drei Inspektoren ca. 400 Schüler in
den Lateinschulen, 27 Lehrer und ein Inspektor 82 Schüler im Paedagogium
Regium. Im Waisenhaus lebten 100 Jungen und 34 Mädchen, die von 10
Erziehern beaufsichtigt wurden.
Von Halle aus zogen Studenten in viele europäische Länder und auch nach
Nordamerika, Indien und in den Vorderen Orient. Franckes weitsichtige
Bestrebungen führten zu praktischen Arbeitsgemeinschaften, die sich in
Verbindung mit englischen und dänischen Kirchenkreisen um die
Missionierung Indiens bemühten.
Bei allem, was Francke geleistet hat, darf seine innere Haltung nicht
übersehen werden. In seinen Schriften wird deutlich, daß er immer auf
Gottes Hilfe angewiesen war, in allem Positiven Gottes Hilfe erkannte und
dadurch auch in schwierigen Lagen, z.B. wenn er kein Geld zur Bezahlung
der Bauarbeiter hatte, auf Gottes rechtzeitige Hilfe vertrauen konnte.
So führte Francke die Entstehung seines Werkes nie auf seine Kraft, sondern
auf das Wirken Gottes zurück, als dessen Werkzeug er sich betrachtete.
88
5.1.2.2 Grundzüge der Pädagogik Franckes
Francke hat sein pädagogisches Konzept, das man unter das Motto „Alles
zur Ehre Gottes und zum Nutzen des Nächsten" stellen kann, in einigen
Schriften dargelegt. Die wichtigste ist wohl der „Kurze und einfältige
Unterricht, wie die Kinder zur wahren Gottseligkeit und christlichen
Klugheit anzuführen sind", die erstmals 1702 erschien. Darüber hinaus sind
auch die Waisenhausordnung, die Schulordnung des Paedagogium Regium
und die Anweisungen für die Lehrer („Instruction für die Praeceptores")
sehr aufschlußreich, wenn man ein umfassendes Bild seiner pädagogischen
Ideen gewinnen will.
Franckes Erziehung – er spricht von „Auferziehung" – ist in erster Linie
religiöse Erziehung. Die eigentliche Aufgabe der Erziehung sieht er darin,
die Kinder zur völligen Orientierung auf Gott hin anzuleiten. Begründung
für die Notwendigkeit der „Auferziehung" ist die „böse Natur des
Menschen".
5.1.2.3 Franckes Menschenbild
Für das Verständnis der Franckeschen Pädagogik ist es wichtig, sich
zunächst über das Menschenbild Franckes Klarheit zu verschaffen, da hier
die Begründung für sein erzieherisches Wirken zu finden ist.
Francke unterscheidet gemäß der Bibel den „Menschen im Stande der
Natur" und den „Menschen im Stande der Gnade". Der „Mensch im Stande
der Natur" steht unter der Herrschaft der Sünde, ihm steht die ewige
Verdammnis bevor. Die Ursache für diese Situation des Menschen ist im
Verlust der Gott-Ebenbildlichkeit des Menschen zu suchen.
In den „Stand der Gnaden" kann der Mensch gelangen, indem er sich durch
Hören auf Gottes Wort seines verlorenen Zustandes bewußt wird und die
Heilstat Christi für sich in Anspruch nimmt.
Das von der Natur aus zum Bösen neigende Kind kann nur durch Erziehung
und Unterricht dazu gebracht werden, zur Verwirklichung seiner
89
Seinsbestimmung zu gelangen: Gott zu ehren und seinem Nächsten zu
dienen – was aus der Sicht der Bibel aber nur insoweit gilt, als das Kind
zuvor aus dem Geist Gottes wiedergeboren wurde.
5.1.2.4 Erziehungsmittel und –inhalte
Im „Kurzen und einfältigen Unterricht" stellt Francke die verschiedenen
Erziehungsmittel vor, die allesamt seinem Hauptziel, der „Anführung zur
wahren Gottseligkeit" und „wahren christlichen Klugheit", dienen sollen.
Um dieses Ziel erreichen zu können, ist es wichtig, daß der „natürliche
Eigenwille" des Kindes" gebrochen wird. Francke meint damit, daß der
Mensch bereit sein soll, seinen eigenen Willen unter den Willen Gottes zu
stellen. Das heißt: keine „sklavische Unterdrückung, sondern willentliche
Einfügung in Gottes Ordnung".
Erst wenn man bereit ist, das „egoistische, selbstsüchtige Streben des
natürlichen Menschen" dem Willen Gottes unterzuordnen und von ihm
ändern zu lassen, wird man fähig, nach Gottes Maßstäben zu leben und auf
das Wohl des Nächsten zu achten.
Sehr wichtig ist für Francke das Vorbild oder Beispiel (Francke „Exempel")
des Erziehers (Lehrer, Eltern oder sonstige Erziehungsberechtigte).
Den Lehrer weist Francke darauf hin, daß er in seinem Wandel, d.h. in
seinem ganzen Verhalten, vorbildlich sein muß, „denn die Kinder machen
alles nach, es sei Gutes oder Böses". Francke weist immer wieder darauf
hin, wie wichtig es ist, daß Reden und Tun der Erziehenden
übereinstimmen.
Wesentliche Erziehungsmittel sind für Francke Ermahnungen,
Verheißungen und Drohungen.
Wichtig ist, daß der Lehrer von Kind zu Kind entscheidet, ob Verheißung
oder Drohung angebracht ist. Der Lehrer muß seine Kinder also gut kennen
und wissen, wie er ihrer Individualität gerecht werden kann. Zwischen
Lehrern und Kindern muß ein gutes Vertrauensverhältnis bestehen, denn nur
90
dann sind die Kinder aufgeschlossen und bereit, z.B. eine Ermahnung zu
akzeptieren und einzusehen.
Bei Strafen sollen die Kinder wissen, warum sie bestraft werden, einsehen,
daß sie die Strafe verdient haben und dem Lehrer nach der Züchtigung die
Hand geben, sich bedanken und Besserung geloben. Francke meint, wenn
die Kinder den Sanftmut und das Mitleid ihrer Erzieher sehen, „werden sie
in ihrem Gewissen mehr überzeugt als durch die Schläge selbst". Den
Kindern soll anschließend nichts nachgetragen werden.
Ein zentraler Punkt in Franckes Pädagogik ist die Erziehung zu
Wahrheitsliebe, Gehorsam und Fleiß.
Das sind die drei wesentlichen Tugenden, die es den Kindern frühzeitig
einzupflanzen gilt.
5.1.2.5 Der Unterricht
Schwerpunkte des Unterrichts an allen Schulen Franckes ist die christliche
Unterweisung. Dazu kommen die „nützlichen Wissenschaften". Francke
fordert anschaulichen Unterricht und läßt dafür eine „Naturalienkammer"
mit Anschauungsmaterial, ein Observatorium, eine mechanische Werkstatt
und einen botanischen Garten anlegen.
Im Unterricht – speziell in der christlichen Unterweisung – kommt es darauf
an, die Schüler zu Erkenntnis und Tat zu führen und nicht nur auswendig
lernen zu lassen. Der Lehrer soll durch Rückfragen feststellen, ob die
Schüler etwas verstanden haben.
Durch den Unterricht soll ein solides Fundament gelegt werden. Das ist
wichtiger als eine Fülle von Wissen und Kenntnissen aus vielen Gebieten.
5.1.2.6 Anforderungen an die Person des Lehrers
Wichtigste Voraussetzung für einen Lehrer, der die Franckeschen
Erziehungsziele verwirklichen will, ist es, selbst gläubig (wiedergeboren) zu
91
sein, einen „gottseligen Wandel" zu führen und im Besitz der „wahren
Klugheit" zu sein. „Es kommt alles darauf an, daß die Vernunft sich dem
Glauben unterwerfe und der Mensch nicht den Ruhm behalte, daß er es
selbst erlaufen habe, sondern daß Gott sich über alles erbarme"123. Die Ehre
Gottes muß ihm an erster Stelle stehen. Sein eigenes Leben, sein Denken
und Handeln muß völlig auf Gott ausgerichtet sein. Da der Lehrer Vorbild
ist und von den Kindern nachgeahmt wird, ist es wichtig, daß er nicht nur
im Reden, sondern auch im Verhalten korrekt ist und sich um einen
tugendhaften, unanstößigen Wandel bemüht.
Im Umgang mit den Kindern wird viel Einfühlungsvermögen von ihm
gefordert. Francke gibt keine exakten Anweisungen, wie ein Kind in einer
bestimmten Situation zu behandeln ist, sondern erwartet von dem Lehrer,
daß er jedem Kind entsprechend seinem Charakter, seiner Individualität
begegnet.
Bei allem ist es unbedingt erforderlich, daß zwischen Lehrer und Schülern
ein rechtes Vertrauensverhältnis besteht.
Die Atmosphäre soll nicht von Angst und Unmut, sondern von Vertrauen
und Verständnis geprägt sein.
Der Lehrer soll stets liebevoll, geduldig und freundlich sein, nie mürrisch
oder zornig. Vor allem soll er sich hüten, seine Launen an den Kindern
auszulassen, indem er sie beschimpft oder schlägt. Wichtig ist, daß er sich
am Vorbild Christi orientiert, der einen Weg der Liebe, des Friedens und der
Sanftmut gegangen ist.
Zum Aufgabenbereich des Lehrers gehört es auch, einen guten Kontakt zu
den Eltern der Schüler herzustellen. Die Eltern müssen informiert sein über
die Erziehungsziele und –methoden, damit es nicht zu Klagen kommt und
die Kinder nicht in der Schule so und zu Hause anders erzogen werden.
Bei all seinem Wirken muß der Lehrer sich stets vor Augen halten: „Es ist
weder der da pflanzt noch der da begießt etwas, sondern Gott, der das
Gedeihen gibt, welchem allein sei Ehre in Ewigkeit" (1. Korinther 3,7).124
123 An Spener in einem Brief v. 15. 3. 1692.
124 Vgl. Klaus Deppermann, August Hermann Francke. In: Martin Greschat (Hrsg.),
Orthodoxie und Pietismus. Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz 1982.
Vgl. Gerhard Ringshausen, August Hermann Francke. In: Hans Scheuerl (Hrsg.), Klassiker
der Pädagogik. Band I, München 1979.
92
5.1.3 Johann Amos Comenius (1592 – 1670)
Comenius war einer der einflußreichsten Pädagogen überhaupt. Sein
Schulbuch, der „Orbis sensualium pictus" (Die sichtbare Welt), war sein
berühmtestes Werk und das wohl am meisten verbreitete Schulbuch
überhaupt. Es wurde fast 250 Jahre lang verwendet und in über 250
Ausgaben gedruckt.
Die Grundprinzipien einer christlichen Erziehung beschreibt Comenius
ganz ausführlich in seiner „Großen Didaktik". Das erklärte Ziel der Didaktik
ist es, den Lesern zu zeigen, wie sie die „gesamte Jugend christlicher Länder
rasch, angenehm und gründlich in den Wissenschaften bilden, zu guten
Sitten führen, mit Frömmigkeit erfüllen und auf diese Weise in den
Jugendjahren zu allem, was für dieses und das künftige Leben nötig ist,
anleiten können".
Auch wenn wir diese Didaktik nicht uneingeschränkt als Vorläufer unseres
Erziehungskonzepts hinstellen können und insbesondere den Einfluß der
Mystik in Comenius’ Leben und Denken ablehnen, so enthält die Didaktik
doch viele Grundsätze und Hinweise, die für eine an der Heiligen Schrift
orientierte Erziehung wegweisend sind.
Comenius hat sehr klar erkannt, daß das Ziel des menschlichen Lebens die
Vorbereitung auf die Ewigkeit ist. Er zieht daraus die wichtige Konsequenz,
daß die Jugend nicht nur für dieses, sondern auch für das jenseitige Leben
vorbereitet werden muß.
Durch den Sündenfall hat der Mensch die Fähigkeit verloren, etwas Gutes,
das wirklich aus ihm selbst kommt, zu denken. Er bleibt aber Abbild Gottes.
Das bedeutet, daß Gottes Weisheit und Güte in ihm wirken können, mit dem
Ziel, ihn (wir müssen sagen: zur Bekehrung und damit) zur Erkenntnis der
Dinge, zur Harmonie der Sitten und dazu, Gott über alles zu lieben,
hinzuführen.
Vgl. Gerhard Schmalenberg, Pietismus – Schule – Religionsunterricht. Frankfurt/M. und
Bern 1974.
Vgl. August Hermann Francke, Pädagogische Schriften. Hrsg. von: Hermann Lorenzen.
Paderborn, 2. Aufl. 1964.
Vgl. August Hermann Francke, Werke in Auswahl. Hrsg. von: Erhard Peschke. Berlin
1969.
Vgl. Erich Beyreuther, Geschichte des Pietismus. Stuttgart 1978.
93
Das schließt einen Lernprozeß nicht aus. Denn der junge Mensch muß
lernen, „sich selbst (und damit alles andere) zu erkennen, zu beherrschen
und zu Gott hinzulenken". Wie das zu geschehen hat, hat er in der „Großen
Didaktik" ausführlich beschrieben. Die Beziehung zu Gott kennzeichnet
Comenius mit dem Begriff der Frömmigkeit. Wir haben sie nicht aus uns
selbst, sondern sie ist eine Gabe Gottes. Ihr rechter Gebrauch setzt das
Mitwirken des Heiligen Geistes als unseres Lehrmeisters voraus. Darüber
hinaus brauchen wir aber auch Eltern, Lehrer und Diener der Kirche, die
sich der Heilige Geist zu seinen Helfern erwählt. Und sie müssen zunächst
lernen, ihre Pflicht richtig zu erfüllen.
Zur Frömmigkeit gehört, daß unser Herz es versteht, Gott überall zu suchen,
wenn es ihn gefunden, ihm zu folgen, und wenn es ihn erreicht hat, sich
seiner zu freuen. Das erste geschieht mit dem Verstand (mens), das zweite
mit unserem Willen (voluntas) und das dritte mit freudiger
Glaubensgewißheit (conscientia). Konkret bedeutet das, daß wir Gott
suchen, indem wir die göttlichen Spuren in der Schöpfung (hier würden wir
ergänzen: und vor allem in Gottes Wort) wahrnehmen. „Wir folgen ihm,
indem wir uns in allem seinem Willen überlassen, sowohl im Handeln als
auch im Dulden alles dessen, was ihm wohlgefällt. Wir freuen uns an Gott,
indem wir in seiner Liebe und Gnade so zur Ruhe kommen, wir im Himmel
und auf Erden nichts Wünschenswerteres kennen als Gott selbst, nichts
Angenehmeres, Lieblicheres, als über ihn nachzudenken, und nichts Süßeres
als sein Lob, so daß unser Herz in der Liebe zu ihm aufgeht."
Drei Dinge kennzeichnen nach dem mystischen Verständnis von Comenius
den wahren Christenmenschen: die Meditation, das Gebet und die
regelmäßige Prüfung seines Fortschritts im Glauben. Dazu gibt er folgende
methodische Hinweise, die wir im Kontext unserer Erziehungskonzeption
durchaus bejahen können:
a) Die Hinführung zur Frömmigkeit muß in der frühesten Jugend beginnen
(1. Timotheus 4,6; Lukas 19,42; Matthäus 6,33; Jesaja 25,9; Jeremia
13,23).
b) Sobald sie Augen, Zunge, Hände und Füße gebrauchen können, sollen
sie auch lernen, Gott und Christus anzurufen, ihre Knie vor der
unsichtbaren Majestät zu beugen und sie zu verehren. Gott hat durchs
94
Gesetz geboten, ihm alle Erstlinge zu weihen (2. Mose 13,2); warum
dann nicht auch die Erstlinge unseres Denkens und Sprechens, unserer
Regungen und Handlungen?
c) Man soll den Kindern frühzeitig einprägen, daß auf nichts mehr Mühe
verwendet werden soll als darauf, sich recht auf das zukünftige Leben
vorzubereiten. Denn es gibt ein seliges, glückliches ewiges Leben mit
Gott und einen endlosen Tod in Finsternis, Schrecken und Pein in der
Hölle (Lukas 16,11 ff.). Alle die werden zu Gott gelangen, die hier in
der Gemeinschaft mit ihm wandeln (1. Mose 5,24).
d) Die Schüler sollen sich daran gewöhnen, alles, was sie hier sehen, hören,
berühren, tun und leiden, unmittelbar oder mittelbar auf Gott zu
beziehen. Dadurch soll die Liebe zu Gott wachsen. Wer mit seiner
Arbeit andere Zwecke verfolgt, entfernt sich von der Absicht Gottes und
damit von Gott selbst.
e) Die Kinder sollen vom Anfang ihres Lebens an sich soviel wie möglich
mit Dingen beschäftigen, die unmittelbar zu Gott führen: mit dem Lesen
der Heiligen Schrift, gottesdienstlichen Übungen und äußeren guten
Werken. Deshalb sei die Heilige Schrift an allen Schulen das A und O
(1. Petrus 1,23; 2. Timotheus 3,15; 1. Timotheus 4,6). Comenius sieht
im Gebrauch „heidnischer" Bücher in der Schule eine Gefahr für den
kindlichen Glauben, da die Jugend noch nicht gewappnet sei gegen den
Aberglauben und die Irrtümer der „Heiden", und lehnt daher den
Gebrauch dieser Schriften weitgehend ab. Wir meinen, daß es Aufgabe
des Lehrers ist, den Kindern zu helfen, weltliche Schriftsteller vom Wort
Gottes her zu beurteilen.
Die schulische Ausbildung gliedert Comenius in zwei Abschnitte: In der
„Muttersprachschule" (erste sechs Jahre) legt Comenius Wert auf:
- Das geläufige und fehlerfreie Lesen und Schreiben der Muttersprache;
- Das Rechnen und Messen;
- Das Singen und Auswendiglernen von Liedern (Kolosser 3,16);
- Die Kenntnis des Katechismus und das Auswendiglernen der
wichtigsten Bibelstellen;
- Übersicht über die Heilsgeschichte;
- Verständnis für die Sittenlehre;
95
- Verständnis für die wirtschaftlichen und politischen Verhältnisse;
- Geographie und Astronomie;
- Allgemeine Kenntnis der verschiedenen Handwerke.
Die „Lateinschule" (weitere sechs Jahre) soll eine „feste Grundlage" für
folgende Ziele bieten:
- Beherrschung der deutschen und einer Fremdsprache sowie
Grundkenntnisse in zwei weiteren Sprachen;
- Klares logisches Denken;
- Gute rednerische Ausbildung;
- Kenntnisse und Fähigkeiten in der Arithmetik und Geometrie;
- Praktische und theoretische Ausbildung in der Musik;
- Grundkenntnisse in der Astronomie;
- Naturwissenschaftliche Ausbildung in Biologie, Physik und Chemie;
- Kenntnis der Erde und ihrer Meere, Inseln, Flüsse und Länder;
- Kenntnis der Erdgeschichte;
- Kenntnis der geschichtlichen Entwicklung in Kirche und Gesellschaft
sowie der Gebräuche und Geschicke der Völker;
- Ethische Kenntnisse und Fähigkeiten allgemein und in der Anwendung
auf Wirtschaft, Staat und Kirche;
- Theologische Fähigkeit, die Grundlagen des Glaubens zu vertreten und
aus der Heiligen Schrift zu begründen.125
5.1.4 Friedrich Wilhelm Dörpfeld (1824 – 1893)
Friedrich Wilhelm Dörpfeld war ein von Gott begnadeter Pädagoge aus dem
Bergischen Land. Er beschäftigte sich ein Leben lang mit der Frage einer
Schulverfassung auf der Grundlage einer „freien Schulgemeinde". Er war
es, der als erster Luthers Gedanken aufgriff und nach der Verwirklichung
einer freien Schule auf der Basis der Mitverantwortung von Eltern, Lehrern
und der christlichen Gemeinde strebte.
125 Vgl. Johann Amos Comenius, Große Didaktik. Düsseldorf und München, 4. Auflage
1970.
96
Dörpfeld entstammte einfachen Verhältnissen und zeichnete sich sehr
schnell durch ein großes pädagogisches Geschick aus, verbunden mit einer
klaren christlichen Konzeption. Bereits nach vier Jahren Unterrichtstätigkeit
erhielt er die bedeutende Schulleiterstelle in Barmen.
Seine Einstellung und Arbeitsweise läßt sich am besten durch eigene Zitate
wiedergeben. Bei seiner Einführungsansprache 1849 sagte er: „Ich werde
keinen Luxus treiben an der Schule und auch keinen leiden. Ich gedenke
nichts zu lehren, was den Kindern in ihrer Standessphäre nichts nutzt und
frommt, sondern bloßes Putzwerk ist, nichts zu lehren und lehren zu lassen,
was solche Eltern verlangen, die gern mit ihren Kindern Parade machen [...].
Darum lieber ein Weniges und das gut gelernt als vieles und das schlecht
[...]. Den gerechten Forderungen der Zeit und der Ehrlichkeit werde ich
gewissenhaft Rechnung tragen, aber nimmer der Mode des Tages [...]. Sie
haben gewiß genügsam gehört von Leuten neuesten Datums, daß eine neue
Zeit angebrochen ist, daß das Alte vergangen und alles neu geworden ist
(das Revolutionsjahr 1848 war eben vorbei). Aber ist wirklich alles neu
geworden, und ist all das Neue besser? Freunde, ich glaube nicht an die
neuesten Offenbarungen des Weltgeistes, wenigstens nicht aufs Wort.
Diesen modernen Glauben und Aberglauben, sei er Mode oder nicht, den
werde ich euren Kindern nicht predigen und auch nicht lehren lassen [...].
Aber ist denn alles neu geworden? Auch das nicht einmal! Der alte Gott, der
lebet noch, und sein Wort bestehet noch und wird auch dann noch bestehen,
wenn Himmel und Erde vergehen und neu werden. Der Weg des Heils ist
noch stets derselbe; nur auf dem Wege, auf dem die Menschenkinder vor
1848 selig werden konnten, können sie auch nachher nur selig werden."
Gegen Ende seines Lebens sagte er: „Ein christlicher Lehrer wollte ich sein,
nicht nur ein bloßer Kulturlehrer [...]. Ich möchte kein Mensch sein, wenn
ich kein Christ wäre. Christ sein heißt, einen Heiland haben und sich von
Gottes Gnade getragen wissen durch Glück und Unglück, durch Freud und
Leid dieser Zeit hindurch und von Ewigkeit zu Ewigkeit [...]. In ihrem
christlichen Erziehungsziel liegt der Schule Würde, und was könnte ein
Schüler Höheres, Wertvolleres, Beglückenderes lernen als das, seinen Gott
und Heiland kennenzulernen."
97
Dörpfelds Gedanken zu einer „freien Schulgemeinde" zeichnen sich durch
folgende Hauptgrundsätze aus:
a) Familienrecht
Anerkennung des vollen elterlichen Erziehungsrechts durch Beteiligung
der Eltern an der Schulverwaltung in Form der Gründungsmöglichkeit
freier Schulen. Dabei ist dieses Recht nicht in dem heutigen
gesellschaftspolitischen Sinne zu sehen. Dörpfeld leitet von dem
Gedanken des elterlichen, in der Bibel begründeten Erziehungsrechts die
Elternpflicht für die Mitgestaltung des Schulwesens ab und fordert
Eltern auf, auf der Basis der Gewissenseinigkeit (s. Punkt d) eine Art
„Genossenschaft" zu bilden.
b) Gewissensfreiheit
Eltern dürfen vom Staat nie gezwungen werden, ihre Kinder an eine
weltanschaulich anders ausgerichtete Schule zu schicken.
Gewissensfreiheit bedeutet, „daß die Eltern das Recht haben, ihre
Kinder nach denjenigen sittlich-religiösen Grundsätzen zu erziehen und
erziehen zu lassen, zu denen sie sich selbst bekennen". Die
Entscheidung darüber ist der Kernpunkt allen elterlichen
Erziehungsrechts. Dem ist dadurch Rechnung zu tragen, daß die
Schulform freigegeben werden muß.
c) Selbstverwaltung
Eltern und an der Schule verpflichtete Institutionen sollen sich freiwillig
zu einer „Genossenschaft" zusammenschließen und die Schule selbst
verwalten. Wer Pflichten und Rechte hat, muß auch die Möglichkeit
haben, sie auszuüben, sonst ist er entmündigt. Die Leitung des
Schulwesens durch Staatsbeamte allein bedeutet Entmündigung. Dabei
will Dörpfeld eine bewußt christliche Schule.
Diese Christlichkeit wird aber nach seiner Überzeugung keineswegs
durch eine organisatorische Bindung der Schule an die Kirche
gewährleistet, sondern allein dadurch, daß christliche Eltern sich zu
einer christlichen „Schulgemeinde" zusammenschließen und christliche
Lehrer wählen.
98
d) Gewissenseinigkeit
Das entscheidende Merkmal einer „Schulgemeinde" ist für Dörpfeld die
„Gewissenseinigkeit" der Eltern und Glieder seiner „Schulgemeinde".
Wenn diese sich zusammenschließen, müssen sie in den wichtigsten
Erziehungsgrundsätzen, „namentlich in religiöser Hinsicht", eins sein.
„Die Schulgemeinden müssen sich so bilden und abgrenzen dürfen, daß
diese Gewissenseinigkeit zur Geltung kommt und demnach die gesamte
Schul- und Lehrordnung nach diesen übereinstimmenden Grundsätzen
eingerichtet werden kann."
Bedenkenswert sind auch noch folgende Ausführungen Dörpfelds, in denen
Einheitsschulen (Simultanschulen, gemischte Schulen) und die
traditionellen Konfessionsschulen abgelehnt werden: Die gemischte Schule
ist zu vergleichen mit einer gemischten Ehe. „Wäre die Simultanschule
(Einheitsschule) die rechte, so müßte auch die gemischte Ehe die rechte
sein. Gemischte Ehen sind zwar nicht alle unglücklich; aber man weiß doch,
daß sie so wenig Normalehen sind, als ein Mensch mit einem langen und
einem kurzen Fuße normal gestaltet ist. Wo die Not eine Simultanschule
zuläßt, da ist sie etwas relativ Gutes, wie es ja immer besser ist, ein Auge zu
haben, als blind zu sein. Wer wird aber die Not als Tugend preisen?
Wo die Anhänger der Simultanschule die Mehrheit haben, da wollen sie der
Minderheit die gemischte Schule mit Gewalt aufzwingen. Man führt die
Gewissensfreiheit im Munde und übt doch unverfroren Gewissenszwang,
und das soll erlaubt sein, wenn es im Namen der ‚Aufklärung’ geschieht.
Die Simultanschule ist dreimal unpädagogisch: denn während nach richtiger
Pädagogik der Religionsunterricht im Mittelpunkt stehen muß, wird er hier
abseits gestellt, isoliert; während die Erziehung Einigkeit fordert, ist bei der
Simultanschule alles gespalten: die Schulgemeinde, das Lehrerkollegium
und der Unterricht; und endlich, indem der Religionsunterricht streng
konfessionell erteilt wird, der übrige Unterricht aber antikonfessionell ist, so
pflanzt man absichtlich einen Zwiespalt in die Kinderseele hinein."
99
Dörpfelds Gedanke der „Schulgemeinde" kann heute noch richtungsweisend
sein, ist aber nicht mehr unmittelbar durchführbar. Schulgemeinde muß
heute im Sinne von Schulgemeinschaft verstanden werden.126
5.2 Rahmen und Grundlagen einer christlichen Privatschule
5.2.1 Der gesetzliche Rahmen
Grundlage des gesamten Rechts der freien Bildung sind die Artikel 7 und 12
des Grundgesetzes. Entsprechend finden sich in verschiedenen
Landesverfassungen Bestimmungen über Privatschulen. Darüber hinaus ist
das Privatschulrecht durch Landesgesetze und entsprechende Verordnungen
ausgestaltet.
Das Recht zur Errichtung von Schulen in freier Trägerschaft ist durch das
Grundgesetz garantiert (Errichtungsgarantie des Artikels 7, Abs. 4 GG).
Damit werden bestimmte Grundrechte konkretisiert wie z.B. das
Erziehungsrecht der Eltern (Artikel 6 GG), die Glaubens- und
Weltanschauungsfreiheit (Artikel 4 GG), das Recht des Kindes auf freie
Entfaltung seiner Persönlichkeit (Artikel 2 GG) sowie das Recht der Eltern
auf freie Wahl der Schule für ihre Kinder (Artikel 12 GG).
Mit der Errichtungsgarantie sind den Schulen in freier Trägerschaft drei
umfassende Rechte zugesprochen:
- die freie Gestaltung der Schule bzw. der Unterrichtseinrichtung;
- die freie Wahl der Lehrer;
- die freie Auswahl der Schüler.
126 Vgl. Friedrich Wilhelm Dörpfeld, Das Fundament einer gerechten, gesunden, freien und
friedlichen Schulverfassung. 1893.
Vgl. Anna Carnap, Friedrich Wilhelm Dörpfeld, Aus seinem Leben und Wirken. Gütersloh
1897.
Vgl. Werner Reininghaus, Die elterliche Verantwortung nach neutestamentlichem,
reformatorischem Verständnis und ihre Wahrnehmung in der Schule.
Maschinenschriftliches Manuskript, Reutlingen 1978.
Vgl. Klaus Goebel, Friedrich Wilhelm Dörpfeld. Sonderdruck aus: Rheinische
Lebensbilder, Band 6, Köln 1975.
Albert Böhme, Erinnerungen an einen großen Schulmann. In: Zeitschrift „Praxis bilden und
erziehen", Heft 3/1977.
Vgl. Zeitschrift „Der Lehrerbote" Jahrgang 1924, Seite 21 ff.
100
In diesem Rahmen können auch „Freie Christliche Schulen" (Evangelische
Bekenntnisschulen) gegründet werden. Sie sind religiös, pädagogisch und
wirtschaftlich selbst verantwortlich und daher vom Staat weitgehend
unabhängig.
Im einzelnen liegt folgender gesetzlicher Rahmen zugrunde:
5.2.1.1 Das Grundgesetz
Artikel 6, Abs. 2:
Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und
die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht. Über ihre Betätigung wacht die
staatliche Gemeinschaft.
Artikel 7, Abs. 4:
Das Recht zur Errichtung von privaten Schulen wird gewährleistet. Private
Schulen als Ersatz für öffentliche Schulen bedürfen der Genehmigung des
Staates und unterstehen den Landesgesetzen. Die Genehmigung ist zu
erteilen, wenn die privaten Schulen in ihren Lehrzielen und Einrichtungen
sowie in der wissenschaftlichen Ausbildung ihrer Lehrkräfte nicht hinter
den öffentlichen Schulen zurückstehen und eine Sonderung der Schüler
nach den Besitzverhältnissen der Eltern nicht gefördert wird. Die
Genehmigung ist zu versagen, wenn die wirtschaftliche und rechtliche
Stellung der Lehrkräfte nicht genügend gesichert ist.
Artikel 7, Abs. 5:
Eine private Volksschule ist nur zuzulassen, wenn die Unterrichts-
verwaltung ein besonders pädagogisches Interesse anerkennt oder, auf
Antrag von Erziehungsberechtigten, wenn sie als Gemeinschaftsschule, als
Bekenntnis- oder Weltanschauungsschule errichtet werden soll und eine
öffentliche Volksschule dieser Art in der Gemeinde nicht besteht.
101
Artikel 12, Abs. 1:
Alle Deutschen haben das Recht, Beruf, Arbeitsplatz und Ausbildungsstätte
frei zu wählen.
5.2.1.2 Landesverfassung von Nordrhein-Westfalen
Artikel 8, Abs. 4:
Für die Privatschulen gelten die Bestimmungen des Artikel 7, Abs. 4 und 5
des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland. Die hiernach
genehmigten Privatschulen haben die gleichen Berechtigungen wie die
entsprechenden öffentlichen Schulen. Sie haben Anspruch auf die zur
Durchführung ihrer Aufgaben und zur Erfüllung ihrer Pflichten
erforderlichen öffentlichen Zuschüsse.
Artikel 9, Abs. 2:
[...] Soweit der Staat für die öffentlichen Schulen Schulgeldfreiheit gewährt,
sind auch die in Artikel 8, Abs. 4 genannten Privatschulen berechtigt, zu
Lasten des Staates auf die Erhebung von Schulgeld zu verzichten; soweit er
Lehr- und Lernmittelfreiheit gewährt, sind Lehr- und Lernmittel in gleicher
Weise für diese Privatschulen zur Verfügung zu stellen wie für die
öffentlichen Schulen.
5.2.1.3 Privatschulgesetz
Das Privatschulrecht ist in erster Linie in Privatschulgesetzen geregelt,
teilweise auch innerhalb der allgemeinen Schulgesetze. Folgende
Neuentwicklungen ergaben sich in den letzten Jahren:
- In allen Ländern wurden Finanzhilferegelungen eingeführt, zum Teil in
eigenen Finanzhilfegesetzen.
- In einigen Ländern wurde die Beurlaubung beamteter staatlicher Lehrer
an Ersatzschulen vorgesehen.
102
- In einigen Ländern wurde die Anerkennung von Ergänzungsschulen
eingeführt.
- In einigen Ländern führte die Umwandlung staatlicher Konfessions-
schulen zur Einrichtung besonderer Schulen in freier Trägerschaft mit
von den anderen Privatschulen abweichenden Vorschriften
(Umwandlungsschulen oder Konkordatsschulen).
5.2.1.4 Wahrnehmung staatsbürgerlicher Verantwortung
Durch die Gründung und den Betrieb von Evangelischen Bekenntnisschulen
wird den Eltern eine Wahlmöglichkeit, eine echte Alternative für Unterricht
und Erziehung ihrer Kinder angeboten. Dies ist ein wesentlicher Beitrag zur
freiheitlich demokratischen Grundordnung unseres Staates. Während heute
der Staatsbürger auf allen Gebieten eine freie Wahl hat (Parteien,
Arbeitsplatz, Wohnort etc.), ist solches in dem wichtigen Bereich der Schule
kaum verwirklicht. Evangelische Bekenntnisschulen erweitern die Freiheit
im Schulwesen für den Bürger und zeigen damit staatsbürgerliche
Verantwortung. Sie sind zudem eine demokratische Einrichtung, weil sie die
Mitverantwortung und Mitarbeit der an der Schule beteiligten Gruppen
pflegen und fördern. Auch fühlen sich diese Schulen den Bildungszielen der
jeweiligen Landesverfassung verpflichtet und stehen allen Schülern offen.
Sie dienen „der öffentlichen Aufgabe, als Ersatz- oder Ergänzungsschulen
das Schulwesen des Landes zu bereichern. Sie ergänzen das Angebot freier
Schulwahl und fördern das Schulwesen durch besondere Inhalte und
Formen der Erziehung und des Unterrichts" (§ 1, Privatschulgesetz von
Baden-Württemberg).
Wegen der grundsätzlichen Freiwilligkeit aller Beteiligten laufen Schulen in
freier Trägerschaft nicht Gefahr, Gefühle und Überzeugungen
Andersdenkender zu verletzen und einzuengen.
103
5.2.2 Grundlagen
5.2.2.1 Willigkeit der Betroffenen
Die christliche Schule ist für Gemeinden und christliche Eltern eine von
Gott gegebene Aufgabe und Möglichkeit zur Erziehung der
Gemeindejugend auch im schulischen Bereich. Soweit dies wahrgenommen
wird, ist das Engagement der betroffenen Familien groß. Daher ist es für die
meisten Eltern selbstverständlich, ihre Kinder zu „ihrer" Schule zu schicken.
Häufig kommt der Wunsch auch von den Kindern, die mit ihren Eltern am
Aufbau der Schule beteiligt werden können und sich zu praktischer
Hilfeleistung einsetzen lassen.
Die Sorge um eine sogenannte „Glasglockensituation" an der christlichen
Schule, in der die Kinder zu einseitig geformt bzw. nicht in die
Auseinandersetzung mit Andersdenkenden geführt werden, ist unbegründet.
Wenn das biblische Menschenbild ernstgenommen wird, werden die Kinder
weder weltfremd noch verschlossen. Die Bibel zeichnet ein realistisches
Bild vom Menschen in der Beziehung zu seiner Umwelt und zu Gott und
gibt damit Beurteilungshilfen bei der Erziehung und Beschäftigung mit dem
Lernstoff.
Soweit Schulgeld erhoben wird, bedeutet dies ein finanzielles Opfer. Oft
fordert ein langer Schulweg Kraft, Zeit und finanziellen Aufwand.
Demgegenüber steht ein unproblematischerer und daher weniger
aufreibender Schulalltag als an mancher staatlichen Schule. Der Einsatz der
Lehrer ist intensiv und aufopfernd.
In den meisten Fällen ist die Erziehung an der christlichen Schule als
Einführung in die biblischen Wahrheiten und Hinführung zum Glauben an
Jesus Christus konkurrenzlos. Dies gibt bei vielen christlichen Eltern den
Ausschlag für ihre Entscheidung.
Viele dem Glauben oder Gemeindeleben fernstehende Eltern sind an einer
alternativen Erziehung ihrer Kinder interessiert. Sie werden ausgiebig über
die biblisch orientierte Einstellung der Schule informiert. Soweit sie den
biblischen Maßstäben für Leben und Erziehung zustimmen, sind sie häufig
gerne bereit, ihr Kind anzumelden.
104
Mitunter leben sie allerdings eindeutig im Widerspruch zur Bibel, was sich
oft bereits an einer gescheiterten Erziehung des Kindes erkennen läßt. Die
christliche Schule wird dann möglicherweise als Ausweg gesehen, um das
Versagen der elterlichen Erziehung durch den Einsatz der Schule
auszugleichen. Hier muß darauf hingewiesen werden, daß die Erziehung an
der Schule nur insoweit von Wert ist, als ihr im Elternhaus nicht bewußt
entgegengearbeitet wird. Daher müssen die Eltern ihr Einverständnis zur
biblischen Erziehungskonzeption der Schule erklären.
Es hängt auch viel von der Bereitschaft der Kinder ab, an die Schule zu
kommen und an ihr zu bleiben. Fast immer gehen sie gerne hin, was sich
natürlich auch auf die Haltung der Eltern auswirkt. Dabei spielen die
Lernleistung und Lernfreude sowie auch das Gefühl der Geborgenheit eine
große Rolle. Die Identifikation der Kinder mit der Schule reicht häufig bis
zu den geistlichen Wurzeln, da sie im Glauben Anteil am Wachstum und
Leben der Schule nehmen und es mittragen.
Für viele Lehrer liegt ein besonderer Anreiz in der christlichen Ausrichtung
der Schule. Sie macht die Lehrertätigkeit zu einem missionarischen Dienst,
was der Grundhaltung eines lebendigen Christen entspricht. Oft kommt es
zu einer klaren Führung an die christliche Schule.
In jedem Fall dürfte eine Berufung in Übereinstimmung mit dem Willen
Gottes erfolgen, was dem ursprünglichen Sinn des Wortes „Beruf"
entspräche.
5.2.2.2 Eindeutiger Auftrag
In der christlichen Schule wird der biblische Erziehungsauftrag ins
Blickfeld gerückt: „Weiset meine Kinder und das Werk meiner Hände zu
mir!" (Jesaja 45,11b) und „Diese Worte, die ich dir heute gebiete, sollst du
zu Herzen nehmen und sollst sie deinen Kindern einschärfen und davon
reden" (5. Mose 6,6-7a).
Es ist ein Irrtum, anzunehmen, daß die Erziehung im biblischen Glauben
von den Eltern und der Gemeinde nur im außerschulischen Bereich
105
wahrzunehmen sei, die eigentliche Bildung der Kinder jedoch dem Staat
und der staatlichen Schule zukomme. Bildung und Glaube können nicht
getrennt behandelt werden. Dies wird heutzutage deutlicher, wenn durch
Ideologien schädliche Wertungen und Normen in alle Unterrichtsbereiche
einfließen, bzw. sie bestimmen und die Kinder einer ideologisch geprägten
Experimentiermaschinerie in der schulischen Erziehung ausgeliefert sind.
Das war auch in der Vergangenheit so, ist aber von den Christen in der Zeit
der Vorherrschaft der humanistischen Bildung nicht in seiner Tragweite
erkannt worden.
Für den Erzieher an der christlichen Schule ist die Bibel Maßstab seines
pädagogischen Handelns. Dies gilt für den bekennenden Christen auch an
der staatlichen Schule oder in der Ausbildung. An der christlichen Schule
wird dies jedoch direkt von ihm erwartet, bzw. kann er das Anliegen der
Schule in Abstimmung und Zusammenarbeit mit den Kollegen und dem
Schulträger frei entfalten. Der biblisch orientierte Glaube drängt danach, in
das Leben und damit in den Schulalltag umgesetzt zu werden. Dabei bleibt
oberstes Ziel, ein Zeugnis für Jesus Christus vor Schülern, Eltern und der
Öffentlichkeit abzulegen: „Der Weisheit Anfang ist die Furcht des Herrn,
und den Heiligen erkennen, das ist Verstand" (Sprüche 9,10).
Hierzu gehört selbstverständlich eine gute pädagogische Arbeit, weil es
darum geht, lebenstüchtige junge Menschen heranzubilden.
5.2.2.3 Eindeutige Ausrichtung
Die Ausrichtung an der Bibel bestimmt nicht allein die Pädagogik, sondern
wirkt konsequenterweise bis in die Didaktik des Unterrichtsstoffes hinein.
Die Lehrer stehen vor der Aufgabe, biblische Maßstäbe im allgemeinen
Lernstoff bestimmend werden zu lassen. Besonders in einzelnen kritischen
Bereichen, wie in der Naturwissenschaft zum Thema „Entstehung des
Lebens", in der Sexualkunde oder auch in den Gesellschaftswissenschaften
und in der Literatur, muß neu gefragt werden, was gelehrt werden soll, wie
es angemessen erarbeitet wird und welche Lösungen in Übereinstimmung
106
mit biblischen Maßstäben angeboten werden. Je nach Bundesland sind die
Lehrpläne einer kritischen Betrachtung zu unterziehen: Liegt eine biblische
Interpretation noch im Rahmen des Lehrplans? Wo ist Korrektur oder gar
Distanzierung nötig, und wo sollten Erweiterungen vorgenommen werden?
Ausschlaggebend ist dabei das biblisch realistische Welt- und
Menschenbild. Zu prüfen ist, inwieweit die Lehrpläne ein anderes, eventuell
mechanistisches oder ideelles Welt- und Menschenbild zu prägen
versuchen.
In diesen Bereich gehört auch die Beurteilung und Auswahl des Lernstoffs
der Lehrbücher und anderer Unterrichtsmaterialien. Hier liegt ein weites,
wichtiges Arbeitsfeld, wo letztlich eigene biblisch geprägte Konzepte,
Materialien und auch Pläne entstehen werden.
5.2.2.4 Schule aus einem Guß
1. Innere brüderliche Verbundenheit der Erzieher und Verantwortlichen
Das Wort Gottes stellt die Basis für ein Leben aus Gott dar. Wiedergeborene
Christen wissen sich, als Christus angehörig, miteinander auf der Grundlage
des Wortes Gottes verbunden. Bei den fürs Schulleben Verantwortlichen:
dem Schulträger, den Elternvertretern, Gemeindegliedern und Lehrern, muß
die gleiche geistliche Basis vorausgesetzt werden, um die Schule nach
biblischen Maßstäben zu führen. Praktisch geben gemeinsame
Veranstaltungen und die Möglichkeit zum Austausch Gelegenheit zu
fruchtbarer Zusammenarbeit und gegenseitiger Hilfe. Dazu gehören
insbesondere Treffen der Lehrerschaft mit Vertretern des Schulträgers sowie
mit den Ältesten (Vorstand) der die Schule mittragenden Gemeinden.
In der Gemeinde Jesu treffen sich unter der Verkündigung oder im
Hauskreis im gemeinsamen Austausch Lehrer, Eltern und häufig auch die
Schüler wieder. Es ist die Gelegenheit, die Verbundenheit mit Eltern und
Schülern im Herrn zu erkennen und anzunehmen.
107
Die Lehrergemeinschaft an der Bekenntnisschule stellt eine christliche
Arbeitsgemeinschaft mit dem Ziel dar, das Wort Gottes auszuleben und in
die schulische Praxis umzusetzen. Dazu legt die gemeinsame Besinnung in
Andachten und Bibelarbeiten den Grund. Darüber hinaus wird die Bibel auf
ihre Antworten zu anstehenden und allgemeinen Erziehungsproblemen
befragt. Sie ist pädagogisches Arbeitsbuch, durch das Gott seine
Erziehungsabsichten offenbart, in der auch die Lehrer als „Kinder Gottes"
den gleichen Erziehungsmaßnahmen unterstellt sind wie die Schüler. In der
Weise, wie sich der Erzieher von Gott erziehen läßt, wird er auch fähig,
andere zu erziehen. Hierbei spielt die brüderlich ermutigende, aber auch
korrigierende Gemeinschaft im Kollegium, in den Gremien des Schulträgers
und in der Gemeinde eine bedeutende Rolle.
2. Schulgemeinschaft aus Lehrern, Schülern, Eltern, Freunden und
Trägerkreis der Schule
Die Schulgemeinschaft wird aus Lehrern, Schülern, Eltern, Freunden und
Mitgliedern des Trägerkreises gebildet. Da außer einer grundsätzlichen
Bejahung der christlichen Erziehung an der Schule keine weiteren
glaubensmäßigen Voraussetzungen erwartet werden, besteht ein großer Teil
der Schüler- und Elternschaft aus gemeindefernen bzw. nicht
wiedergeborenen Menschen.
Der Prozentsatz nimmt in dem Maße zu, wie sich die Schule etabliert, denn
zunächst entschließen sich vornehmlich christliche Eltern, ihre Kinder an
einer solchen neuen christlichen Schule anzumelden. So ist sie darauf
angelegt, aus dem gemeindeinternen Rahmen herauszuwachsen. Sie muß
einen offenen und doch bestimmten Weg gehen, um dem Glauben
fernstehende Familien aufnehmen und halten zu können, zugleich aber auch
den klaren biblischen Kurs einzuhalten. Der Klassenzusammensetzung ist
besondere Beachtung zu schenken, um die Klassengemeinschaft nicht zu
gefährden. Eine Möglichkeit zur Kontaktaufnahme und zum Abbau der
Fremdheit bietet die gemeinsame Vorbereitung und Durchführung von
Feiern und Schulfesten.
108
Die Schüler genießen unabhängig von ihrer Glaubenseinstellung
Gleichberechtigung und werden zu gegenseitiger Achtung erzogen. Die
Schule gleicht hier einer christlichen Familie, in der jedes Kind
angenommen ist, gleich, ob es bekehrt ist oder nicht. Dabei bleibt es
natürlich vornehmlicher Wunsch der Erzieher, alle Kinder zum Glauben an
Jesus Christus zu führen.
In Schulandachten, täglichen Klassenandachten, bei Festen und vor
christlichen Feiertagen, aber auch in Elternversammlungen und
Elternveranstaltungen wird – ganz selbstverständlich – durch eine
ungezwungene kurze Betrachtung des Wortes Gottes der Grund für eine
gemeinsame Ausrichtung gelegt. Gott selbst wird hierdurch Einlaß in die
Gemeinschaft gegeben und die gesamte Schularbeit unter seinen Segen
gestellt.
3. Bedeutung der Gemeinde für die Schule und Kontakt zu den Gemeinden
Mit „Gemeinde" ist zunächst weniger eine Organisation als vielmehr die
Schar der Jesus Christus angehörenden Gläubigen gemeint. So ist eine große
Zahl von Christen im ganzen Land an der christlichen Schule interessiert
und unterstützt sie mit Gebet, finanziellen Gaben und persönlichem Einsatz.
Voraussetzung, um für die christliche Schule engagiert eintreten zu können,
ist die Erkenntnis der heutigen notvollen Schulsituation und die daraus
erwachsenden Probleme für die Gemeindejugend. Zunächst werden nur
einzelne diese Problematik und die Notwendigkeit einer christlichen Schule
erfassen. Es geht hierbei um mehr als menschliches Ermessen, nämlich um
eine von Gott gewirkte Erkenntnis und einen biblischen Auftrag. Es ist
Aufklärungsarbeit in den örtlichen Gemeinden notwendig, um den Konflikt
deutlich zu machen, den gläubige Lehrer und Schüler oft an staatlichen
Schulen auszutragen haben.
Die christliche Schule erscheint in diesem Licht nicht als ein interessantes
christliches Betätigungsfeld, sondern wird zur „Arche Noah" in einer von
Ideologien überschwemmten Umwelt und Schule.
109
Familien und Gemeinden, die ihre Kinder und Jugend an den Maßstäben der
Bibel hin zu Christus erziehen möchten, finden durch eine oder besser
„ihre" christliche Schule darin Unterstützung. Es ist wünschenswert, daß
sich ganze Gemeinden tragend hinter das Schulprojekt stellen und davon
Gewinn haben.
5.3 Christliche Erziehung in der Schule
5.3.1 Der Erziehungsauftrag der Schule
5.3.1.1 Erlösung und Erziehung in der Bibel
Im Evangelium geht es zunächst nicht um die Erziehung des Menschen,
sondern um seine Erlösung. Die Bibel hat nicht den unfertigen, unreifen
Menschen im Auge, sondern den gottfernen, in Schuld verstrickten
Menschen. Gottesferne und Schuldverfallenheit werden aber nicht durch
Erziehung und Bildung überwunden, sondern durch Befreiung aus der
Knechtschaft der Schuld, der Sünde und des Todes. Nicht durch Erziehung
wird der Mensch zum eigentlichen Menschsein erweckt, sondern durch
Gottes Geist wird er neu geschaffen (Römer 8,1 ff.). Das alles schenkt Gott
dem Menschen aus reiner Gnade.
Doch hebt die Gnade die Erziehung des Menschen nicht auf, die als Hilfe
zum Wachsen, Reifen und zur Entfaltung seiner Begabungen und
Fähigkeiten gegeben ist. Auch der durch Gottes Geist Wiedergeborene
bedarf der erzieherischen Hilfe, um seine Gaben recht zu entfalten und diese
im Glauben und in der Liebe zur Ehre Gottes und im Dienst für den
Mitmenschen einsetzen zu können.
Letztlich ist Gott selbst der Erzieher des Menschen (Jeremia 31,33-34). Er
arbeitet an ihm durch sein Wort, durch die Begegnung mit anderen Christen,
durch die Vielfalt der Lebensführungen und durch seine erfahrbare Güte und
Strenge. Mit all seinem Tun im Leben eines einzelnen verbindet er
erzieherische Absichten.
110
5.3.1.2 Primat der elterlichen Erziehung
Als Erziehungsbeauftragte Gottes werden in der Bibel zuerst die Eltern
genannt.
Schon im Alten Testament wird den Vätern die Aufgabe zugewiesen,
Hauspriester zu sein, die großen Taten Gottes der ganzen Familie
weiterzugeben, den Kindern die Ordnungen Gottes einzuprägen und mit
väterlicher Autorität über deren Gültigkeit im Leben der Familie zu wachen
(5. Mose 6,6-7).
Diese Linie wird im Neuen Testament fortgesetzt. Es muß zu denken geben,
daß als Erziehungsbeauftragte Gottes nur die Eltern genannt werden, denn
in der griechischen Umwelt des Neuen Testaments wurde die Erziehung
größtenteils anderen Menschen, den „Pädagogen" überlassen. Darüber
hinaus erhält die Familie eine wertvolle Erziehungshilfe durch die
Einbindung in die christliche Gemeinde. Durch den Anschluß an die
christliche Gemeinde geht die Familie aber nicht darin auf, sie wird
vielmehr in ihrem Bestand bestätigt und geschützt.
Auch Martin Luther (vgl. 5.1.1) erkennt als von Gott beauftragte
Erziehungsträger erstlich die Eltern. Erziehung der Kinder ist die eigentliche
Aufgabe des Ehestandes: „Darum hat er uns Kinder gegeben und befohlen,
daß wir sie nach seinem Willen aufziehen und regieren, sonst bedürfte er
Vater und Mutter nirgend zu" (Großer Katechismus). Luther begründet das
Primat der elterlichen Erziehung mit der Schöpfungsordnung. Gott hat die
Kinder schöpfungsmäßig den Eltern zugeordnet. Zu erziehen ist nicht
irgendein Mensch schlechthin, sondern das von Gott den jeweiligen Eltern
gegebene Kind. Eltern stehen für das Kind an Gottes Stelle und haben mit
dem Auftrag auch die Vollmacht zur Erziehung.
Das Ziel der elterlichen Erziehung ist die Erziehung der Kinder zur
Fähigkeit und Willigkeit zum Dienst für Gott in dieser Welt. Eltern haben
dabei einen doppelten Auftrag an den Kindern: Die „geistliche" und
„weltliche" Erziehung. „Denn gewißlich ist Vater und Mutter der Kinder
Apostel, Bischof, Pfarrer, indem sie das Evangelium ihnen kundmachen.
Kurzum, keine größere, edlere Gewalt auf Erden ist denn die der Eltern über
ihre Kinder, sintemal sie geistliche und weltliche Gewalt über sie haben."
111
Die christliche Erziehung ist dabei die wichtigste und heiligste Pflicht der
Eltern. „Darum wisse ein jeglicher, daß er schuldig ist bei Verlust der
göttlichen Gnade, daß er seine Kinder vor allen Dingen zu Gottesfurcht und
–erkenntnis erziehe" (Großer Katechismus).
Das „Weltliche" darf auch nicht versäumt werden: „[...] und wo sie
geschickt sind, auch lernen und studieren lasse, daß man sie, wozu es not ist,
brauchen könnte."
Die Eltern sind die einzigen, in deren Hand die beiden Regimente vereinigt
sind, „daß das Kind nützlich und seliglich erzogen werde".
Im Grundgesetz der Bundesrepublik ist das Primat der elterlichen Erziehung
in Art. 6, Abs. 2 aufgegriffen: „Pflege und Erziehung der Kinder sind das
natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht."
5.3.1.3 Mitverantwortung der christlichen Gemeinde
Es entspricht der biblischen Linie, daß der einzelne gläubige Mensch
hineingestellt wird in die christliche Gemeinde und diese wiederum
Verantwortung zu tragen hat für den einzelnen (Hebräer 10,24: „Lasset uns
aufeinander achthaben [...]"). Dies gilt auch im Blick auf die Familie und
die Kinder. Schon im Alten Testament wurde immer wieder ganz Israel
aufgefordert, die großen Taten Gottes der kommenden Generation
weiterzusagen (Psalm 78).
In der urchristlichen Gemeinde waren die Kinder (das ganze „Haus")
selbstverständlich in der Gemeinde mit dabei und damit auch unter der
Verkündigung und Unterweisung. Als Jesus Christus zwölf Jahre alt war,
saß er im Tempel bei den Schriftgelehrten, was auf eine aus dem Alten
Testament hervorgegangene Tradition schließen läßt.
Deutlich wurde durch die Reformation und den Pietismus die
Mitverantwortung der Gemeinde für die Erziehung der heranwachsenden
Generation aufgezeigt und auch wahrgenommen.
Heute wird bei der Taufe die Mitverantwortung der Gemeinde aufgezeigt,
die auf vielfältige Weise wahrgenommen werden kann und muß (wobei
112
bekannt ist, daß dies in den meisten Fällen nicht geschieht): durch Patenamt,
Kindergottesdienst, Kinderstunden oder Sonntagsschulen, durch bewußt
christlich geführte Kindergärten, durch Kinder- und Jugendfreizeiten,
biblische Unterweisung und Zurüstung, aber auch durch Entwickeln und
Bereitstellen geeigneter Materialien.
Leider hat die Gemeinde Jesu die schulische Erziehung und Bildung lange
Zeit vergessen und in unverantwortlicher Weise dem Staat das Feld völlig
überlassen.
5.3.1.4 Schule als „Hilfsanstalt" des Elternhauses
Die Realität des Erziehungsgeschehens hat gezeigt und zeigt heute noch,
daß Eltern trotz ihrer primären Erziehungsverantwortung ihren Auftrag
häufig nicht oder oft nur sehr schlecht wahrnehmen – sei es aus fehlender
Fähigkeit, fehlendem Willen und Bewußtsein oder fehlender Zeit. Bereits
Luther (s. 5.1.1) ist in seiner Schrift „An die Ratsherrn aller Städte
deutschen Landes, daß sie christliche Schulen aufrichten und halten sollen"
auf diese Punkte eingegangen. Luther stellt die Frage: „Soll deshalb alles
unterbleiben und die Kinder vernachlässigt werden?" Nein – aus diesem
Grunde müssen eben andere Erzieher den Eltern helfen. Luther denkt dabei
in erster Linie an die Lehrer und an die Schule, soweit der Erziehungs- und
Bildungsauftrag die Kräfte der Eltern übersteigt. „Der größte Teil der Eltern
ist leider ungeschickt und weiß nicht, wie man Kinder erziehen und lehren
soll. Denn sie haben selber nur gelernt, den Bauch zu versorgen. Es gehören
besondere Leute dazu, die die Kinder gut und richtig lehren und erziehen
sollen. Denn wo ein Vater nicht allein vermag sein Kind aufzuziehen,
nimmt er einen Schulmeister dazu, der es lehre. Ist er zu schwach
(finanziell!), so nimmt er seine Freunde und Nachbarn zu Hilfe."
Die Schule ist also ihrem Wesen nach eine „Hilfsanstalt" der Familie. Alles,
was sie tut, geschieht in Ergänzung und Stellvertretung ihres Wesens und
Auftrags. Es ist daher nur folgerichtig, daß Luther zunächst fordert und
erwartet, daß Eltern sich zusammenschließen und einen „Schulmeister"
113
anstellen. Weil sich das aber nicht realisieren ließ, forderte Luther die
Obrigkeit auf, ihre Mitverantwortung wahrzunehmen, begründet durch das
Kindeswohl und aus Sorge für das Gemeinwesen. Es sollte jedoch nur eine
helfende und ergänzende Aufgabe sein. „Darum kommt es hier dem Rate
und der Obrigkeit zu, der Jugend die allergrößte Sorge und Aufmerksamkeit
zuzuwenden [...]. Darin besteht einer Stadt bestes und reichstes Gedeihen.
Heil und Stärke, daß sie viele gute, gebildete, vernünftige, ehrbare
wohlerzogene Bürger hat."
Aber auf diese Weise wurde leider die Obrigkeitsschule die Schulform für
Jahrhunderte. Luther wollte sie nur als Not- und Übergangslösung
verstanden wissen. Im Laufe der Zeit wurde der Gedanke der Schule als
einer „Hilfsanstalt" immer stärker durch obrigkeitsstaatliches Denken
überlagert. Dörpfeld (s. 5.1.4) versuchte demgegenüber Luthers Gedanken
wieder aufzunehmen und die Schule als freie Einrichtung einer „freien
Schulgemeinde" unter Mitwirkung der Eltern zu betreiben.
5.3.1.5 Keine staatliche Bevormundung der Familie
Die Einsichten Luthers über die elterliche Erziehungsproblematik können in
unguter Weise der heute von verschiedenen Seiten geforderten
„Professionalisierung der Elternrolle" Vorschub leisten. Dem muß
widerstanden werden, denn hier geht es nicht um Hilfen für die Eltern,
sondern um ihre Entmündigung und um die ideologische Fremdbestimmung
der Familie. Manche möchten heute gern dem Staat das Primat der
Erziehung übertragen.
Die Forderung Luthers nach „Obrigkeitsschulen" ist zu einem gewissen Teil
zeitbedingt zu verstehen. Das Analphabetentum war zu seiner Zeit weit
verbreitet und schon deshalb waren viele Eltern nicht in der Lage, ihren
gottgegebenen Erziehungsauftrag wahrzunehmen. In diesem Fall war eine
viel stärkere Unterstützung der elterlichen Erziehung von außen notwendig.
In unserer Zeit, da der Ausbildungsstand der meisten Eltern ausreicht, um
ihren Kindern eine gute erzieherische Begleitung zu geben, kann ein
114
Zusammenwirken zwischen Elternhaus und Schule mühelos verwirklicht
werden. Das Primat der elterlichen Erziehung kann wieder voll zum Tragen
kommen.
Allerdings dürfen Erziehung und Bildung nicht verwechselt werden. Die
vielfältige Spezialisierung der schulischen Bildungsgänge in einer modernen
Gesellschaft machen die Schule unentbehrlich. Aber das darf eben nicht
dazu führen, daß der göttliche Erziehungsauftrag an die Eltern umgangen,
außer Kraft gesetzt oder in der Schule institutionalisiert wird.
5.3.2 Grundsätze christlicher Erziehung in der Schule
5.3.2.1 Vertrauen und Hoffnung, Liebe und Güte, Gerechtigkeit
und Barmherzigkeit erfahren
Grundlage allen guten menschlichen Zusammenlebens und damit auch aller
guten Erziehung ist Vertrauen. Vertrauen schenkt einem Kind die nötige
Sicherheit, die es für das Hineinwachsen ins Leben benötigt. Solches
Vertrauen gibt ruhige Gelassenheit auch in Situationen, die ein Kind bisher
noch nicht kannte. Es wird sich im Leben bewähren.
Wir leben in einer Welt, die voller Mißtrauen ist. Zudem hat die
„emanzipatorische Erziehung" das Mißtrauen an allem Überkommenen und
an aller Tradition hervorgerufen und stark gefördert (vgl. 4.1.2.1). Die Bibel
zeigt uns den Weg zum Vertrauen. Es ist das Vertrauen in eine Person, in
Jesus Christus. Dieses Vertrauen ist noch nie enttäuscht worden und bildet
die Grundlage, auch in menschlichen Situationen Vertrauen wagen zu
können. Tiefes Vertrauen lernt ein Mensch erst in der Bindung an Jesus
Christus.
So wenig ein Mensch ohne Vertrauen gesund heranwachsen kann, so wenig
kann er es ohne eine lebendige Hoffnung. Hoffnung gibt Menschen in
ausweglos erscheinenden Situationen den Mut zum Weitermachen, bewahrt
vor Sinnlosigkeitsgefühl und ist ein starker Motor. Gerade in unserer Zeit
herrschen Hoffnungslosigkeit und Resignation vor.
115
Die Bibel gibt uns durch den Blick auf das ewige Leben eine Dimension der
Hoffnung frei, die Zukunftsängste vertreibt und eine echte Motivation für
die richtige Bewältigung des Lebens ist.
Bei jedem Menschen äußert sich die Sehnsucht nach Liebe, nach der
Erfahrung des Angenommenwerdens und der Hingabe. Wo ein Mensch dies
erfährt, wird er, was er sein soll und kann. Wir erkennen solche hingebende
Liebe am tiefsten bei Jesus Christus. Es ist eine Liebe, die auch Versagen
und Schuldigwerden trägt.
Schließlich benötigt ein Kind zu einem gesunden Wachstum die Erfahrung
der Güte, der Gerechtigkeit und Barmherzigkeit. Es muß menschliche
Wärme bei seinen Erziehern spüren, Klarheit und Wahrheit in den Aussagen
und Verhaltensweisen der Erzieher feststellen und schließlich auch den
barmherzigen Umgang mit Schwächen, Versagen und Schuldigwerden und
hierin die Tiefe der Vergebung und des befreienden Neuanfangs erleben
können.
5.3.2.2 Vorbild des Erziehers
„Persönlichkeiten werden durch Persönlichkeiten geprägt." Diese Tatsache
ist in der zurückliegenden Zeit vielfach vergessen oder bewußt
unterschlagen worden. Nichts wirkt auf einen heranwachsenden jungen
Menschen so stark wie ein erlebtes Vorbild. In der Begegnung mit einem
menschlichen Vorbild erfährt der junge Mensch die eigentliche „Bildung".
Auch wenn der Erzieher es nicht wahrhaben will, er wirkt in erster Linie
durch sein Sein, in zweiter Linie durch sein Tun und erst in dritter Linie
durch sein Wort.
Die Erfahrung eines positiven Vorbildes wirkt stabilisierend auf die
Entwicklung eines jungen Menschen. Positives Vorbild kann nur sein, wer
selbst in Jesus Christus ein „Vor-Bild" hat. Christsein heißt: dem großen
Vorbild Jesus Christus nachfolgen. Wer in einem solchen Vertrauen und
Glauben lebt, wird selber „glaub-würdig" und damit zu einem vorbildlichen
Vermittler von Vertrauen, Hoffnung und Liebe. Dabei geht es nicht darum,
116
ein idealistisches Bild eines Erziehers zu entwerfen oder ihm eine übergroße
Last aufzulegen. Er kann nur erziehen, wenn er sich selber noch von Gott
erziehen läßt. Doch ist es wichtig, daß gerade im Blick auf die
Glaubenserziehung die Bedeutung des gelebten Vorbildes herausgestellt
wird. Der junge Mensch soll Jesus Christus und die Bibel nicht nur im Wort
hören und erfahren, sondern im Lebensvollzug „er-leben".
5.3.2.3 Ausstrahlung des Erziehers
Erziehung und Bildung leben von der Ausstrahlung des Lehrenden und
nicht zuerst von seiner Fixierung auf die Sache, den Stoff.
Allerdings muß der Lehrer von seinem Fach fasziniert sein, sonst kann er
seinen Stoff nicht engagiert vermitteln. Gerade von diesem
Eingenommensein durch sein Metier lebt sein Unterricht, nur so kann er die
Aufmerksamkeit seiner Schüler fesseln. Das schließt Lob und positive
Motivation ebenso ein wie gelegentliche Maßregelung, macht letztere aber
häufig überflüssig. Auf diese Weise werden viele Ordnungs- und
Erziehungsprobleme gelöst oder vermieden.
Der von der Person des Lehrers beeindruckte Schüler wird oft zu Lerneifer,
Verhaltensweisen, ja zu Fähigkeiten motiviert, die man sonst bei ihm
vermißt.
5.3.2.4 Bescheidenheit des Erziehers
Christliche Erzieher kennen ihre eigene Unzulänglichkeit, Begrenzung und
Sünde. Sie wissen, daß ihre Einsichten und ihre Entscheidungen oft
fragwürdig sind und daß es auch immer wieder an der Kraft fehlt, den
erkannten Weg bewußt und konsequent zu gehen. Zugleich wissen sie sich
und die Schüler in Gottes Hand geborgen. Sie wissen um den persönlichen
Plan Gottes mit einem jeden Leben.
117
Jeder Mensch ist ein Gedanke Gottes. Es wird einem Erzieher nie möglich
sein, das Geheimnis eines menschlichen Lebens in seiner Tiefe zu erfassen
und immer richtig erzieherisch begleiten zu können. Christliche Erziehung
weiß um die Unvollkommenheit, das Versagen und die Schuld. Der
christliche Lehrer wird vielfach schuldig, nicht nur, weil er immer wieder
den Mangel an den notwendigen Begabungen und Fähigkeiten erkennt,
sondern weil er selbst ein gefallener Mensch ist. Darin liegt die Ursache,
daß häufig der rechte Blick für das Kind fehlt und zugleich auch die Kraft
für den richtigen Weg der Erziehung. Deshalb bedarf der christliche Lehrer
der Vergebung und der Kraft des Heiligen Geistes, die ihm immer wieder
neu den Blick für das Kind öffnet, Geduld, Hoffnung und Liebe gibt und ihn
zugleich bescheiden und demütig werden läßt darüber, was in einer
christlichen Schule möglich und was nicht möglich ist.
5.3.2.5 Autorität und Strafe
Erziehung ohne Autorität ist nicht möglich. Die sprachliche Herkunft von
„auctoritas" (Urheberschaft) deutet die Notwendigkeit der Autorität an.
Wahre Autorität ist nicht Machtanmaßung, sondern Dienstauftrag. Sie leitet
sich ab von der Vor-Rangigkeit und Nach-Ordnung der Beziehung Gott-
Mensch und Vater-Kind. Echte Autorität ist verliehene Autorität. Deshalb
muß dankbarer Gehorsam gegen Gottes Gebote ein Ziel christlicher
Erziehung und Lebensführung sein.
Erzieherische Autorität ist gepaart mit Liebe: „Ihr Kinder seid gehorsam
euren Eltern in dem Herrn [...]. Ihr Väter reizet eure Kinder nicht zum Zorn,
sondern ziehet sie auf in der Zucht und Vermahnung des Herrn" (Epheser
6,1 + 4). Heute dagegen beherrschen Freizügigkeit und Ungebundenheit das
Denken und Verhalten. Die absolut geltenden Gebote der Bibel und der
Absolutheitsanspruch Jesu Christi widersprechen aber einem
humanistischen Weltbild.
Christliche Erziehung rechnet mit der Gefallenheit des Menschen. Deshalb
kann nicht nur das Gute gefördert, sondern muß auch dem Bösen gewehrt
118
werden. Barmherzigkeit und Vergebung sind auch nur dort sinnvoll, wo es
Sünde und Strafe gibt. Strafe wiederum setzt klar erkennbare Gebote und
Ordnungen voraus.
5.3.2.6 Gehorsam
„Ihr Kinder, seid gehorsam euren Eltern in dem Herrn; denn das ist recht"
(Epheser 6,1; Kolosser 3,20).
Eine solche biblische Aussage wird heute weitgehend mißverstanden,
belächelt, als überholt angesehen oder aufs äußerste bekämpft, nicht zuletzt
deshalb, weil Gehorsam heute oft als Manipulation mißverstanden wird.
Dient Manipulation lediglich zur Durchsetzung egoistischer Ziele des
Befehlenden, so dient Gehorsam dagegen zum Besten des Gehorchenden.
Allen heute gegensätzlich laufenden Strömungen und Manipulationen zum
Trotz muß jedoch neu entdeckt werden, daß Autorität und Gehorsam
überaus positive Begriffe sind. „Gehorsam" hängt – auch im Griechischen –
mit „hören" zusammen. Nur wer hört, kann auch mit Gehorsam antworten.
Mit dem Glauben an Gott hängt grundlegend auch der Gehorsam ihm
gegenüber zusammen. Echter christlicher Glaube – nicht nur des Kindes,
sondern auch der Eltern und der Erzieher – zeigt sich in konkretem
Gehorsam und Vertrauen dem Worte Gottes gegenüber. Doch dieser
Gehorsam ist nicht natürlicherweise vorhanden, sondern muß gelernt und in
konkreten Alltagssituationen bewährt werden. Da er keinem Menschen
leicht fällt, stellt Gott jeden Menschen von Kind an vor die Notwendigkeit
des Gehorsams, ob in der Familie oder in der staatlichen Ordnung. Kinder
sehen Gott nicht; um aber den Gehorsam lernen zu können, gibt er ihnen
Eltern und Erzieher als sichtbares Gegenüber. Wer diesen gegenüber
Gehorsam gelernt hat, wird leichter Gottes Wort gehorchen können. Wahrer
Glaubensgehorsam jedoch kann nur in der Hinwendung zu Jesus Christus
vollzogen werden.
Im Hinblick auf Sinngebung und Lebensorientierung ist erzieherische
Führung in Liebe und Strenge unbedingt erforderlich, damit dem Kind ein
119
Halt gegeben wird, den es in sich nicht hat. Im Grunde bedeutet ein Verzicht
auf Gehorsam, Unbarmherzigkeit gegenüber dem Heranwachsenden. Wenn
dem jungen Menschen nicht klar gesagt wird, was Recht und Unrecht ist,
was er zu tun und zu lassen hat und daran sein Gehorsam geschult wird,
versagt man ihm wichtige Orientierungshilfen.
Es ist von großer Bedeutung, daß Eltern und Erzieher dem Kind bei der
Gehorsamserziehung hilfreich zur Seite stehen, vor allem auch als Vorbild.
Es geht nämlich um Erziehung zu willigem Gehorsam. Eltern und Erzieher
dürfen Gehorsam nie hart erzwingen oder sich rechthaberisch durchsetzen
wollen. Dadurch würden sie geradezu die Grundlage für den Gehorsam
zerstören.
Deshalb steht in engem Zusammenhang mit Epheser 6,1 das Wort: „Ihr
Väter, reizet eure Kinder nicht zum Zorn!" (Epheser 6,4).
Eltern und Erzieher müssen den gesunden Boden vorbereiten, auf dem
Gehorsam wachsen kann. Dieser wächst in einer Atmosphäre der Liebe, des
Vertrauens und der Dankbarkeit. Wo sie fehlt, wird aus Gehorsam eine
Unterordnung in Bitterkeit, Auflehnung oder Stumpfheit, die sich eines
Tages zu rächen sucht.
Alle Gehorsamserziehung geschieht unter den Weisungen aus Jesaja 45,11:
„Weiset meine Kinder und das Werk meiner Hände zu mir!" (Luther) und
Epheser 6,4: „Ziehet sie auf in der Zucht und Vermahnung des Herrn!"
So geht es in der Gehorsamserziehung nicht um die Durchsetzung der Eltern
und Erzieher, sondern um das Wohl und Heil des Kindes.
5.3.2.7 Lernen durch Tun
Seit der Schulreform wird einseitig vorwiegend der Intellekt beim jungen
Menschen angesprochen und Lernen durch reflektierendes Nachdenken
angestrebt. Dabei läßt sich aber beim Kleinkind deutlich erkennen, daß es
vor allem durch Nachahmen lernt. Dazu gehören das Beobachten, Erfassen
und Tun. Nachahmen ist die Einleitung zur Entwicklung eigenen
schöpferischen Handelns. „Only through imitation we come to originality"
120
(John Steinbeck). Das imitative Lernen wird in der gängigen Pädagogik auf
das Alter bis zum zehnten Lebensjahr begrenzt, vollzieht sich aber in
Wirklichkeit ein Leben lang (2. Timotheus 3,10 ff.).
5.3.2.8 Kindsein – vollwertiges Menschsein
Ein Mensch wird nicht erst durch Entwicklung und Erziehung im Lauf der
Zeit ein vollgültiger Mensch, sondern er ist Mensch in jeder Phase seines
Lebens. Jedes Lebensalter hat seinen eigenen Sinn, seine eigene Größe und
seine eigene Begrenzung. Deshalb haben auch Kinder vollen Anteil am
Leben. Die Kindheit ist nicht nur Vorstufe zum Erwachsensein, sondern
eine vollgültige Lebensstufe. Deshalb darf nicht alles Tun und Lernen nur
auf die Zukunft und einen zukünftigen Zweck ausgerichtet werden, sondern
hat auch für die Gegenwart Bedeutung. Gerade das Kindsein wird von Jesus
als Vorbild für den ganzen Glauben hingestellt.
5.3.2.9 Schonraum für das Kind
In den zurückliegenden Jahren erlebten wir das Vordringen der
Humboldtschen Intellektualisierung in einer Welle intensiver „Vorschul"-
Erziehung und großer Bildungsprogramme schon für das Kleinkind und den
Kindergarten. Die Gefahr von Verfrühungen wurde vielfach übersehen, das
Kind zu sehr verschult.
Jeder junge Mensch benötigt zu einem gesunden Wachstum einen Schon-
und Spielraum. Sonst werden seine Kräfte zu früh strapaziert und können
sich nicht entfalten. Wie jedes gesunde Wachstum in der Natur seine Zeit
braucht und nicht mit Gewalt erzwungen werden kann, benötigt ein junger
Mensch zur Entfaltung seiner Begabungen Zeit. Ein solches Wartenkönnen
ist zugleich Zeichen der Ehrfurcht vor der individuellen Persönlichkeit des
Kindes und jungen Menschen. Das Kind wird nur in der „Zucht und
121
Vermahnung des Herrn" (Epheser 6,4) gesund erzogen; es darf nicht in
Erziehungs- und Bildungsprogramme hineingepreßt werden.
Wichtig ist, daß der jeweilige kindliche Entwicklungsstand sowie die
individuelle Begabung beachtet und angenommen werden. Dazu gehört
auch die Beachtung der geschlechtlichen Verschiedenheit von Jungen und
Mädchen. Die schöpfungsmäßig vorgegebene Verschiedenartigkeit und
Andersartigkeit bedeutet keine Benachteiligung. Im Gegenteil: Eine
christliche Schule nimmt die Individualität des einzelnen Menschen ernst.
Es gibt keine „Mädchen"-Rolle oder „Jungen"-Rolle – das Kind ist
entweder Junge oder Mädchen und muß als Junge oder als Mädchen ganz
bejaht werden. Hier hat die Freudsche Psychologie zum Schaden junger
Menschen ein falsches Menschenbild entworfen, das in manchen
pädagogischen Handlungskonzepten seinen negativen Ausdruck findet.
5.3.2.10 Geistiges Ringen in den Auseinandersetzungen unserer
Zeit
Jeder junge Mensch wächst heute in eine Welt hinein, die geprägt ist von
zahlreichen geistigen Strömungen, Ideologien und Verführungen. Allein
kann er den richtigen Weg nicht finden. Der Erzieher muß ihn in dieser
Auseinandersetzung führen, begleiten und stufenweise in die
Selbständigkeit entlassen. Deshalb ist es notwendig, daß der Erzieher selbst
sich den geistigen Auseinandersetzungen unserer Zeit stellt und im Licht der
Bibel Orientierung erhält und weitergibt.
Der Erzieher muß zunächst dem Kind die Maßstäbe Gottes und die
Gefährdungen des Lebens verdeutlichen, sich jedoch immer mehr
zurücknehmen lernen, die werdende Selbständigkeit des jungen Menschen
beachten und ihn zunehmend aus der Ferne begleiten. Dazu gehört auch,
daß er Konflikte mit jungen Menschen durchstehen und richtig einordnen
lernt, d.h. zwischen schuldhafter Aggression und Selbständigkeits-
äußerungen unterscheiden lernt und auf Störungen angemessen und
souverän reagieren kann.
122
5.3.2.11 Enge Zusammenarbeit zwischen Elternhaus und Schule
Grundpfeiler einer christlichen Schule ist das enge Miteinander von
Elternhaus und Schule. Dabei geht es hier nicht primär um die Frage der
gesellschaftlichen oder bildungspolitischen Mitbestimmungsregelung.
Vielmehr sind andere Gedanken leitend für die Notwendigkeit dieses
Miteinanders. Zunächst wird das Miteinander geboten durch das Primat der
elterlichen Erziehungsverantwortung (s. 5.3.1.2). Da die Schule nur eine
„Hilfsanstalt" ist und die Eltern letzte Instanz in der erzieherischen
Verantwortung bleiben, muß die Schule von sich aus das Elternhaus
einbinden, vor allem hinsichtlich der erzieherischen Prägung.
Andererseits müssen die Eltern die Ziele der Schule kennen und bejahen,
um zu Hause die Kinder in dieser Erziehung zu bestärken. Dies ist um so
wichtiger, als es heute zahlreiche „geheime Miterzieher" gibt, vor denen
man sich nur schwer schützen kann. Deshalb gilt es, die Gemeinsamkeit zu
verstärken. Eltern müssen daher in die Schule mit einbezogen werden.
Elternhaus und Schule können voneinander lernen und einander helfen. Die
Lehrer werden in ihrem Erziehungsauftrag unterstützt durch Kenntnis des
häuslichen und familiären Umfeldes und durch helfende Hinweise von
seiten der Eltern. Deshalb ist eine vertrauensvolle und freundliche
Atmosphäre wichtig, die viel leichter dort entsteht, wo man sich oft
begegnet, als in einem distanzierten Verhältnis. Schließlich geht es darum,
die Position der Familie heute zu stärken und zu stabilisieren.
All dies geschieht durch eine vielfältig angelegte Zusammenarbeit zwischen
Elternhaus und Schule, einerseits auf der Klassenebene, darüber hinaus auf
den Ebenen der Klassenstufen, der Schulart und des Schulganzen.
Gespräche zwischen Lehrern und Eltern, Elternabende, Vorträge,
gemeinsame Wanderungen und Ausflüge, Begegnungen bei Festen und
Feiern gehören ebenso dazu wie der sofortige telefonische Kontakt in
wichtigen Fällen.
123
5.3.2.12 Gemeinschaft erleben
Die christliche Schule ist nicht nur ein Ort des Lernens, sondern sie soll
Leben vermitteln. Deshalb geht es auch um das Er-Leben der Gemeinschaft,
des Vertrauens, des Glaubens, der Hoffnung und der Liebe. Positive
Gemeinschaftserlebnisse prägen mehr als das Reflektieren über
Gemeinschaft. Gerade in diesem Bereich besteht heute weitgehend ein
Mangel. Wenn ein Schüler seine Schulzeit in froher Gemeinschaft erlebt, ist
er den Auseinandersetzungen des Lebens eher gewachsen und kann durch
eine solche Schule nicht für das Leben „frustriert" sein.
Vielfältig sind deshalb die Gemeinschaftserlebnisse, die angeboten werden:
im engen und überschaubaren Bereich der Klasse, darüber hinaus in der
Klassenstufe, der Schulart und im Schulganzen. Solche Veranstaltungen
beziehen Eltern oft mit ein. Doch gilt es auch Gemeinschaft auf der Ebene
Lehrer-Schüler zu verwirklichen, z.B. durch gelegentlich zwangloses
Beieinandersein im unterrichtlichen Bereich, durch Klassen- und
Schulfeiern, Ausflüge und vor allem durch das Angebot von Freizeiten.
5.3.2.13 Die Bedeutung des Gebets
Das Gebet nimmt einen hohen Stellenwert in der christlichen Schule ein.
Gemeint ist dabei sowohl das persönliche Gebet des Lehrers für seine
Schüler und deren Familien, als auch das gemeinsame Gebet im Kollegium
für Schüler, Familien und Anliegen der Schule. Auch Schüler tragen durch
ihr Gebet die Lehrer, Mitschüler und die ganze Schule mit, sowohl zu Hause
als auch in den Andachten und Schülergebetskreisen.
Erfreulicherweise werden christliche Schulen auch durch die Fürbitte von
Eltern, Freunden, Gemeinden und deren Gebetskreise unterstützt.
124
5.4 Arbeitsgemeinschaft Evangelischer Bekenntnisschulen
Die Gründungen der Schulen in Reutlingen (1973) und Bremen (1979)
stehen am Anfang einer Reihe von Neugründungen Evangelischer
Bekenntnisschulen in Deutschland, die sich bis heute fortsetzt. Mit der
Eröffnung weiterer Bekenntnisschulen in Gießen (1980) und Frankfurt
(1981) entstand das Bedürfnis nach einer Ebene der Zusammenarbeit. So
kam es 1981 zur Gründung der Arbeitsgemeinschaft Evangelischer
Bekenntnisschulen, der „AEBS". Inzwischen arbeiten in Deutschland und
der Schweiz über 30 Schulen auf biblischer Basis.
Die Vertreter der Mitgliedsschulen treffen sich zu gemeinsamen Tagungen.
Einmal im Jahr bietet die AEBS über ein Wochenende einen
Fortbildungskurs für Lehrerinnen und Lehrer an christlichen Schulen an.
Solche Fortbildungsmöglichkeiten sollen in Zukunft verstärkt werden.
Eine der zentralen Aufgaben der AEBS ist die Hilfestellung für „junge"
Schulen und für Initiativen zur Gründung christlicher Schulen. Deshalb lädt
die AEBS jährlich einmal alle Schulen und Schulinitiativen zu einem
Gebets- und Informationstag ein, an dem Fragen besprochen und
Erfahrungen weitergegeben werden.
Eine weitere Aufgabe der AEBS besteht in der Erarbeitung fachspezifischer
Hilfen für den Unterricht an Bekenntnisschulen. So gibt es derzeit biblische
Leitlinien für eine Didaktik der Fächer Biologie, Schöpfungswissenschaften
und Erdkunde. Das Buch „Schule auf biblischer Basis. Grundlagen und
Ziele Evangelischer Bekenntnisschulen" wurde 1985 von der AEBS
herausgegeben und erschien zwischenzeitlich in 2. Auflage.
Die AEBS lädt weitere Bekenntnisschulen zur Mitgliedschaft ein.
Gastmitglied und später Vollmitglied können Schulen werden, deren
Vorstand den „Grundsätzen der AEBS" zugestimmt hat. Diese Grundsätze
definieren den Beginn des Christseins mit der persönlichen Wiedergeburt
und binden alle Fragen des Glaubens, der Lebensführung, der Lehre, der
Wissenschaft, der Erziehung und der öffentlichen Verantwortung an die
Autorität der Heiligen Schrift. Die Glaubensbasis der Evangelischen Allianz
aus dem Gründungsjahr 1846 ist Bestandteil dieser Grundsätze.
125
Die Mitgliedschaft kann formlos bei einer der Gründungsschulen Bremen,
Gießen, Frankfurt oder Reutlingen beantragt werden.
Evangelische Bekenntnisschulen
bieten eine fundierte und umfassende Schulausbildung
arbeiten auf der Basis der ganzen Heiligen Schrift und des biblischen
Menschenbildes
bemühen sich um eine Erziehung der Schüler zu mündigen
Staatsbürgern, die ihr Leben in der Verantwortung vor Gott und dem
Nächsten gestalten können
setzen gegen Verlorensein und Schuld das mutmachende Evangelium
von der Auferstehung Jesu und der Versöhnung mit Gott
wollen die ihnen anvertrauten Kinder realistisch auf das Leben in Beruf
und Familie vorbereiten, die Persönlichkeitsentwicklung fördern und
mithelfen, daß junge Menschen Verantwortung in Gemeinde und
Gesellschaft übernehmen
arbeiten mit Lehrplänen, die den staatlichen Anforderungen entsprechen,
aber darüberhinaus viel Raum für Kreativität lassen
stellen sich auf der Grundlage des Evangeliums pädagogischen und
gesellschaftlichen Herausforderungen
bieten engagierten Lehrkräften die Möglichkeit einer interessanten und
missionarischen Arbeit jenseits üblicher Schulroutine
streben ein gutes Miteinander von Eltern, Lehrern und Schülern an
haben kreative Lehrer, ganz normale Schüler, kritische und weniger
kritische Eltern, meistens zu wenig Geld, aber den Mut, mit Gott neue
Schritte zu wagen
haben eine eigene Geschichte mit dem lebendigen Gott
sind Schulen, wie man sie sich wünscht.
5.5 Förderverein für christliche Schulen e.V.
Der Förderverein für christliche Schulen e.V. übernimmt die Förderung in
ideeller und materieller Hinsicht von freien christlichen Schulen auf
126
biblischer Basis in Nordrhein-Westfalen sowie von Initiativen und Vereinen
zur Gründung und Unterhaltung solcher Schulen.
Was prägt eine christliche Schule?
- Schulleitung und Lehrer sind einem pädagogischen Konzept
verpflichtet, dessen Grundlage das biblische Menschenbild ist.
- Vor allem im Religions- oder biblischen Unterricht soll Wegweisung auf
Jesus Christus geschehen und dadurch die Urteilsfähigkeit der Schüler
über Religionen und Weltanschauungen geschärft werden.
- Vertrauen prägt das Verhältnis der Lehrer untereinander, zu den
Schülern und vor allem zu den Eltern.
Bsis der Evangelischen Allianz (der kleinste gemeinsame Nenner des
Glaubens für alle Mitarbeiter an christlichen Privatschulen):
„Wir bekennen uns
zur Allmacht und Gnade Gottes, des Vaters, des Sohnes und des
Heiligen Geistes in Schöpfung, Offenbarung, Erlösung, Endgericht und
Vollendung;
zur göttlichen Inspiration der Heiligen Schrift, ihrer völligen
Zuverlässigkeit und höchsten Autorität in allen Fragen des Glaubens und
der Lebensführung;
zur völligen Sündhaftigkeit und Schuld des gefallenen Menschen, die
ihn Gottes Zorn und Verdammnis aussetzen;
zum stellvertretenden Opfer des menschgewordenen Gottessohnes als
einziger und allgenugsamer Grundlage der Erlösung von der Schuld und
Macht der Sünde und ihren Folgen;
zur Rechtfertigung des Sünders allein durch die Gnade Gottes aufgrund
des Glaubens an Jesus Christus, der gekreuzigt wurde und von den
Toten auferstanden ist;
zum Werk des Heiligen Geistes, welcher Bekehrung und Wiedergeburt
des Menschen bewirkt, im Gläubigen wohnt und ihn zur Heiligung
befähigt;
zum Priestertum aller Gläubigen, die die weltweite Gemeinde bilden,
den Leib, dessen Haupt Jesus Christus ist, und die durch seinen Befehl
zur Verkündigung des Evangeliums in aller Welt verpflichtet ist;
127
zur Erwartung der persönlichen, sichtbaren Wiederkunft des Herrn Jesus
Christus in Macht und Herrlichkeit; zum Fortleben der von Gott
gegebenen Personalität des Menschen; zur Auferstehung des Leibes zum
Gericht und zum ewigen Leben der Erlösten in Herrlichkeit."127
5.6 Zusammenfassung der Grundsätze christlicher Pädagogik
1) Christliche Pädagogik muß in ihren Denkansätzen, Wertmaßstäben,
grundlegenden Lehrmethoden, Lernzielen und Lerninhalten auf den
Herrn Jesus Christus bezogen sein. Seine Liebe, Wahrhaftigkeit und
Sein Gehorsam Gott gegenüber sind Vorbild für christliche Pädagogen.
(Epheser 4,20-24; Philipper 2,5; Kolosser 3,16-17)
2) Christliche Pädagogik stützt sich in erkenntnistheoretischer Hinsicht
nicht auf die Autonomie der menschlichen Vernunft, auf die
gesellschaftliche Bedingtheit ethischer Maßstäbe, auf die „gute Natur
des Menschen", sondern auf die Offenbarung Gottes, auf Gottes Wort.
(Johannes 17,17; Römer 6,17; 2. Thessalonicher 2,15; 2. Timotheus
3,16-17)
3) Christliche Pädagogik geht von der Tatsache aus, daß jeder Mensch seit
dem Sündenfall ein sündiges Geschöpf ist, das allein durch den
stellvertretenden Opfertod Jesu Christi erlöst werden kann. (Epheser
2,1-3; Epheser 4,18; Römer 5,12-21)
4) Christliche Pädagogik weiß um die Bedeutsamkeit einer
lernpsychologischen, institutionell-gesellschaftlichen, didaktischen und
wissenschafts-theoretischen Dimension der Erziehung, wobei
Bibelorientierung grundlegende Voraussetzung für eine angemessene
Deutung dieser Dimension ist.
5) Christliche Pädagogik lehnt Methoden moderner Erziehungswissenschaft
nicht einfach ab, sondern hinterfragt sie kritisch im
Hinblick auf ihre erziehungs-philosophischen Ansätze, um sie dann im
127 Die Glaubensbasis der Evangelischen Allianz aus dem Gründungsjahr 1846 in der
Fassung von 1972.
128
Licht der Bibel neu zu besehen und entsprechend anzuwenden.
(1. Korinther 10,23-24; 1. Thessalonicher 5,21-22)
6) Christliche Pädagogik erblickt in der Ehe und Familie von Gott
gegebene Einrichtungen, die von prinzipieller Bedeutung sind, und sieht
in den Kindern eine Gabe Gottes, für die Eltern und Lehrer vor Gott
verantwortlich sind. (Epheser 5,21-6,4)
7) Christliche Pädagogik beinhaltet eine Zusammenarbeit von Schule und
Elternhaus, von Trägerverein und Lehrerschaft, von Lehrern und
Schülern auf der Basis von Vertrauen. (Römer 15,7)
8) Christliche Pädagogik ist abhängig vom Gebet der Pädagogen für ihre
Schüler, vom Gebet der Eltern für ihre Schule, vom Gebet der Freunde
für die Schule und davon, daß Menschen fragen: Herr, was willst Du?
(1. Thessalonicher 5,17; Sprüche 3,5-6)
9) Christliche Pädagogik leitet dazu an, nach dem Wort Gottes zu leben.
Sie darf nicht zulassen, daß das „Christentum" als Deckmantel für
humanistische Erziehungs- und Bildungsideale benutzt wird.
10) Christliche Pädagogik hat die Perspektive der Zukunft, denn sie will
junge Menschen in ein Leben mit dem Herrn Jesus Christus führen, ein
Leben, das allein lebenswert ist. „Denn so sehr hat Gott die Welt geliebt,
daß Er Seinen eingeborenen Sohn gab, damit jeder, der an Ihn glaubt,
nicht verloren gehe, sondern ewiges Leben habe." (Johannes 3,16).
6. Johann Sebastian Bach in der Grundschule
In einer Unterrichtssequenz der 4. Klasse über Johann Sebastian Bach sollte
zunächst einmal eine Begegnung mit Johann Sebastian Bach im Mittelpunkt
des Unterrichts stehen. Dies kann z.B. durch eine Erzählung geschehen, in
der die Kinder das Leben Johann Sebastian Bachs kennenlernen. „Das
Erzählen ist eine ursprüngliche Art der Begegnung. [...] Die meisten Kinder
lieben es, Erzählungen zuzuhören. Kleinen Kindern kann man die gleiche
Geschichte wieder und wieder erzählen. Aber noch größere Kinder können
129
einen Lehrer nach einer spannenden Erzählung mit der Bitte überraschen:
‘Erzählen Sie es gerade noch einmal!’"128 Und so bietet es sich an, das
Leben Johann Sebastian Bachs erzählend zu vermitteln. Die Kinder werden
aufmerksam zuhören und den Musikbeispielen, welche die Erzählung
auflockern, Gehör verleihen. Denn der Musikunterricht „hat die Aufgabe,
die Freude der Kinder [...] am Musikhören [...] zu wecken und zu
erhalten"129. Die eingefügten Musikbeispiele lockern die folgende
Erzählung nicht nur auf, sondern sollen auch das angeführte Ziel des
Musikunterrichts erfüllen:
Begegnung mit Johann Sebastian Bach:130
Einleitendes Musikbeispiel aus:
Konzert für Violine und Oboe Nr. 9 c-Moll BWV 1060
Liebe Kinder,
die Musik, die ihr gerade hört, stammt von einem der größten Komponisten
aller Zeiten. Wann immer von Musik die Rede ist, kommt man auf ihn zu
sprechen. Wie Mozart oder Beethoven, steht sein Name für Musik
schlechthin: Johann Sebastian Bach. Er wurde am 21. März 1685, also
gegen Ende des 17. Jahrhunderts, in Eisenach geboren, einer kleinen Stadt
in Thüringen, nicht weit von Leipzig. Seine Familie war arm. Der Vater,
Johann Ambrosius, war Musiker. Je nach Bedarf spielte er am herzoglichen
Hof oder im Stadtorchester oder als Organist in der Kirche. Sebastian war
das achte Kind, doch viele seiner Geschwister starben schon früh, wie es in
jener Zeit häufig der Fall war. In Bachs Familie drehte sich alles um Musik.
Seine Vorfahren waren Musiker oder spielten doch zumindest ein
Instrument, wie der Teppichweber Hans Bach oder Veit Bach, der Müller,
der seine Zither in die Mühle mitnahm. Es wird erzählt, er habe zum
Klappern der Mühle artig die Saiten gezupft. Manchmal spielte er auch den
Bauern zum Tanz auf; vielleicht hat Bach daran gedacht, als er eines Tages
diese Bourée, einen französischen Tanz, komponierte.
Musikbeispiel aus:
128 Hans Aebli, Zwölf Grundformen des Lehrens, Stuttgart 1994, S. 34.
129 Richtlinien und Lehrpläne für die Grundschule, Musik. Runderlaß des Kultusministers
des Landes Nordrhein-Westfalen, Köln 1985, S. 20.
130 Vgl. Heinz Meyer, Begegnung mit Johann Sebastian Bach, Frankfurt am Main 1988, S.
4-20.
130
Suite für Laute e-Moll BWV 996
Bachs Geburtshaus in Eisenach steht heute noch. Schon zu Bachs Zeiten
führte hinter der schweren Eingangstür eine große Diele mit einem
Ziegelfußboden zu einer düsteren Treppe. Der Zaun rings ums Haus war
von Weinlaub und Büschen überwuchert. Die frühen Kindheitsjahre Bachs
verlaufen friedlich und ereignislos. Man kann sich ausmalen, wie der Vater
den kleinen Johann Sebastian in die Anfangsgründe der Musik einweihte
oder ihn im Familienchor mitsingen ließ, noch ehe er ihn auf die Schule
schickte. Man kann sich auch vorstellen, wie sich der kleine Johann
Sebastian auf dem dunklen Dachboden versteckte und rastlos seitenweise
Noten abschrieb; vielleicht hat diese frühe Leidenschaft bereits seinen
Augen geschadet. Doch auch die sorglose Kinderzeit wird nur allzu bald
von großem Kummer überschattet. Sebastian ist gerade neun Jahre alt, als er
seine Eltern verliert. Er und seine Brüder stehen plötzlich allein in der Welt.
Musikbeispiel aus:
Suite für Orchester C-Dur BWV 1066
Der älteste Bruder, Johann Christoph, nimmt sich tapfer und liebevoll der
Waisen an. Er ist selber Organist und schickt Johann Sebastian, der
besonders begabt scheint, für einige Zeit in die Lateinschule in Ohrdruf.
Aber schon mit fünfzehn Jahren muß Sebastian selbst für seinen
Lebensunterhalt sorgen. Er bekommt eine Stelle in Lüneburg als
Chorsänger. Dort lernte er die Musik berühmter französischer Meister
kennen, wie Couperin und Lully, und erhält Unterricht in Geigen- und
Orgelspiel, sowie in Kompositionslehre.
Musikbeispiel aus:
Passacaglia und Fuge c-Moll BWV 582
Mit 18 Jahren hat Bach bereits einen so guten Ruf als Organist, daß man
ihm die Stelle des Organisten in Arnstadt anbietet.
Musikbeispiel (Fortsetzung) aus:
Passacaglia und Fuge c-Moll BWV 582
Bach gibt sich viel Mühe, alle seine Aufgaben zu erfüllen. Neben seiner
Arbeit als Organist in der Kirche übernimmt er auch noch den Chor der
Lateinschule. Aber schon bald ersticken ihn seine Verpflichtungen und so
bittet er seine Vorgesetzten um einen vierwöchigen Urlaub. Jetzt ist er frei
131
und kann einen lang gehegten Wunsch verwirklichen. Er will in Lübeck
Heinrich Buxtehude besuchen und bei ihm lernen. Buxtehude hatte zu seiner
Zeit in ganz Europa einen hervorragenden Ruf als Organist. Auch seine
Kompositionen waren sehr geschätzt. Bach machte sich also zu Fuß von
Arnstadt nach Lübeck auf. 350 km liegen vor ihm. Aber er ist jung und
lernbegierig und hat keine Angst vor dem beschwerlichen Weg. Der
Aufenthalt in Lübeck wird für Bach zum großen Erlebnis und beeinflußt
sein eigenes Schaffen nachhaltig. Er ist so hingerissen, daß er erst vier
Monate später wieder heimkommt. Kurz nach seiner Rückkehr übernimmt
Bach die Stellung des Organisten in Mühlhausen. Dort komponiert er seine
ersten Kantaten.
Musikbeispiel aus:
Kantate „Sie werden aus Saba alle kommen" BWV 65
Eine Kantate ist ein Werk für Solosänger, Chöre und Orchester. Die Texte
stammen zumeist aus der Bibel. Es gibt aber auch Kantaten, die sich nicht
auf religiöse Stoffe beziehen.
Musikbeispiel aus:
„Schweigt stille, plaudert nicht" BWV 211 („Kaffeekantate")
Im Jahre 1707 ist Bach 22 Jahre alt. Er möchte einen Hausstand gründen
und heiratet seine Cousine Maria Barbara. Aus dieser Ehe gehen sieben
Kinder hervor. Eines dieser Kinder, Philipp Emanuel, wird später
Kammermusiker beim König von Preußen und nimmt in der
Musikgeschichte einen wichtigen Platz ein. Wenn man sich die Musik
seines Sohnes anhört, stellt man fest, daß er dem Vater gegenüber gar nicht
so schlecht abschneidet.
Musikbeispiel aus:
C. P. E. Bach, Symphonie C-Dur Wq 174
Bach ist sehr glücklich verheiratet. Aber dieses Glück wird durch den
plötzlichen Tod von Maria Barbara jäh zerstört. Bach ist verzweifelt. Er
erkennt aber, daß seine Kinder eine neue Mutter brauchen, und so heiratet er
nach einiger Zeit Anna Magdalena Wilcken. Die Jahre gehen dahin. Die
Familie wird immer größer und schließlich müssen die Eltern Bach zwanzig
Kinder ernähren, kleiden und erziehen. Wie schwer das für einen Musiker
ist, könnt ihr euch ja vorstellen.
132
Musikbeispiel aus:
Sonate für Flöte solo a-Moll BWV 1013
1708 übernimmt Bach eine Stellung als Musiker beim Herzog von Sachsen-
Weimar. Das bedeutet für ihn eine wesentliche Verbesserung seiner
Lebensumstände. Der Herzog weiß ihn zu schätzen. Er läßt ihm eine
gewisse Freiheit, so daß Bach Zeit hat, zu reisen und zu komponieren. In
Weimar komponiert er seine Meisterwerke für Orgel: Choräle, Präludien,
Phantasien, Toccaten, auf die stets eine Fuge folgt. Fugen sind Bachs ganz
besondere Spezialität. Er komponiert eine riesige Zahl von Fugen, die trotz
des strengen Aufbaus stets geprägt sind von großem Melodienreichtum und
unvergleichlicher harmonischer Fülle.
Musikbeispiel aus:
Toccata, Adagio und Fuge für Orgel C-Dur BWV 564
Bachs Aufenthalt in Weimar geht unter unerfreulichen Umständen zu Ende.
1716 ist der alte Hofkapellmeister gestorben. Aber man bietet Bach, der in
jeder Hinsicht der ideale Nachfolger wäre, mit keinem Wort die Stellung an,
sondern zieht ihm einen mittelmäßigen Musiker vor. Darauf bittet Bach,
wohl mit etwas heftigen Worten, um seine Entlassung. Ohne die Antwort
abzuwarten, fährt er nach Dresden. Nach seiner Rückkehr läßt ihn der
verärgerte despotische Herzog festnehmen und verhängt einen vierwöchigen
Arrest, also fast Gefängnis, über ihn. In dieser Zeit warten seine Frau und
vier kleine Kinder ängstlich auf den Ausgang der Geschichte.
Musikbeispiel aus:
Konzert für Cembalo solo g-Moll BWV 975
Bach muß eine schwierige Periode durchstehen. Glücklicherweise hat ihm
Prinz Leopold von Anhalt-Köthen seine Gunst erwiesen. 1717 erhält er die
Stelle des Hofkapellmeisters in Köthen. Nach Weimar ist Köthen die zweite
wichtige Etappe in seinem Leben. Seine Hauptaufgabe besteht darin, das
kleine Orchester des Prinzen zu dirigieren. Der junge Prinz ist ein guter
Musiker und spielt mehrere Musikinstrumente. Er behandelt Bach mit
Hochachtung und Wohlwollen und nimmt ihn gerne als Begleiter auf seine
Reisen mit. In diese glückliche Zeit fallen vier Orchestersuiten, die zum
Fröhlichsten, Brillantesten gehören, was Bach komponiert hat.
Musikbeispiel aus:
133
Suite für Orchester h-Moll BWV 1067
In Köthen schreibt er auch eines seiner bekanntesten Werke: die
Brandenburgischen Konzerte. Es sind sechs Konzerte für verschiedene
Instrumente, die er später mit einer sehr höflichen Widmung dem
Markgrafen Christian Ludwig von Brandenburg übersendet.
Musikbeispiel aus:
Brandenburgisches Konzert Nr. 5 D-Dur BWV 1050
Weiterhin schreibt Bach in den sechs Jahren, die er in Köthen verbringt, 16
Konzerte für Klavier und Orchester, drei Partiten für Solovioline, sechs
Gambensuiten (die Gambe ist der Vorläufer unseres Cellos) und das
berühmte Wohltemperierte Klavier, das in erster Linie zum Nutzen und
Gebrauch der lernbegierigen musikalischen Jugend gedacht ist. Als
Gesamtwerk umfaßt diese erstaunliche Sammlung 48 Präludien und 48
Fugen. Hören wir uns das erste Präludium mit Fuge an; es steht in C-Dur
und wirkt ganz einfach.
Musikbeispiel aus:
Das Wohltemperierte Klavier I C-Dur BWV 846
1723: Bach ist 38 Jahre alt. Und nun kommt er nach Leipzig. Leipzig ist die
dritte und letzte wichtige Etappe in seinem Leben. Er wird zum
Thomaskantor der berühmten Stadt Leipzig ernannt, in der er bis zu seinem
Tode bleiben wird. Der Posten des Thomaskantor umfaßt viele Pflichten.
Als Thomaskantor ist Bach für die Musikdarbietungen in allen vier Kirchen
der Stadt verantwortlich. Er muß für fast jeden Sonntag eine neue Kantate
komponieren, deren Proben er dann leitet und die er am Sonntag selber
dirigiert. Er hat auch für die musikalische Gestaltung von Hochzeiten und
Begräbnissen zu sorgen. Und schließlich muß er an der Thomasschule
gelangweilten, trägen Kindern Latein- und Gesangsunterricht erteilen. In
Leipzig komponiert Bach seine schönsten Kantaten. Sie tragen die Titel
„Actus Tragicus", „Wachet auf"-Kantate, „Pfingstkantate" und
„Weihnachtsoratorium" (in Wirklichkeit eine Folge von sechs Kantaten).
Weiterhin komponiert er das „Magnificat", die „Johannespassion" und die
„Matthäuspassion"; drei Werke von überirdischer Schönheit.
Musikbeispiel aus:
Matthäuspassion BWV 244 – Eingangschor
134
Zwar haben die beiden Passionen dieselben kompositorischen Elemente, sie
unterscheiden sich aber doch stark voneinander. Die Johannespassion dauert
nur halb so lang und braucht ein kleineres Orchester. Die Matthäuspassion
dagegen hat grandiose Ausmaße. Bach nützt hier alle Möglichkeiten aus, die
ihm Chor und Orchester bieten. Die modernen Instrumente werden häufig
von zwei Chören überlagert. An vielen Stellen vereinigen sich die
Solostimmen mit den Chören. Das Innere der St. Thomaskirche, mit einer
Empore zur Linken und einer Empore zur Rechten, brachte Bach auf die
Idee, in der Matthäuspassion zwei getrennte Chöre zu verwenden, die sich
in einem gewaltigen Dialog vereinen. Hören wir uns den Doppelchor am
Schluß dieser Passion an:
Musikbeispiel aus:
Matthäuspassion BWV 244 – Schlußchor (Doppelchor)
1733: Bach ist 48 Jahre alt. Er steht auf der Höhe seiner musikalischen
Meisterschaft. Er macht sich an die Komposition eines groß angelegten
Werkes: es ist die h-Moll-Messe, die in der Geschichte der Kirchenmusik
eine Sonderstellung einnimmt. Sie ist weder speziell katholisch, noch
speziell protestantisch. Das Werk soll über den verschiedenen religiösen
Anschauungen stehen, die sich heftig streiten und die Gläubigen in zwei
Lager spalten.
Musikbeispiel aus:
Hohe Messe h-Moll BWV 232 – Sanctus
Im Verlauf seiner langen Leipziger Jahre schränkt Bach nach und nach seine
kompositorische Tätigkeit ein. Gelegentlich bietet ihm eine Reise die
Möglichkeit, aus dem Alltagstrott auszubrechen. So fährt er mehrere Male
nach Dresden. Seine letzte große Reise führt ihn aber an den Hof des Königs
von Preußen. Bach ist auf dem Gipfel seines Ruhms. Friedrich II., der ein
großer Musikliebhaber ist, spielt Flöte. Die Sonate, aus der wir jetzt einen
Ausschnitt hören, hat der König höchst persönlich für dieses Instrument
geschrieben.
Musikbeispiel aus:
Friedrich II. („der Große"), Sonate für Flöte und Basso continuo
Schon seit langem möchte der König den hochberühmten Meister
kennenlernen. Bach ist schon alt und zögert zunächst mit der Reise. Man
135
muß sich klarmachen, daß sich damals, vor ungefähr 250 Jahren, ein Mann
alt vorkam, wenn er die 50 überschritten hatte. Zudem war zu jener Zeit das
Reisen langwierig und mühsam. Diese Reise wurde Bachs letzter Triumph.
Wir wollen uns einmal die Szene im Schloß ausmalen: es ist ein
Sonntagabend, der 7. Mai 1747, im Potsdamer Schloß. Soeben hat der
König seine Sonate zu Ende gespielt, da wird ihm eine Liste gereicht, wie es
damals bei Hofe üblich war, auf der die Neuankömmlinge des Tages
verzeichnet sind. Der König überfliegt die Liste kurz und wendet sich
plötzlich triumphierend an die anwesenden Gäste. „Meine Herren, der alte
Bach ist soeben eingetroffen. Man möge ihn abholen und unverzüglich ins
Schloß führen." So kommt es, daß sich der große Musiker nicht einmal
mehr umziehen konnte und sich in seiner verstaubten Reisekleidung bei
Hofe vorstellen mußte. Man kann sich denken, was für verlegene
Entschuldigungen er vorbrachte. Aber der junge König, er war 35, während
Bach 62 Jahre alt war, nimmt ihm sofort die Befangenheit. „Das ist ganz
unwichtig, Herr Bach, denn ich war ungeduldig, Sie unter diesen
auserwählten Gästen zu sehen. Es ist eine große Ehre für uns, Sie hier zu
haben." „Majestät, Ihre Güte verwirrt mich." „Nicht doch, Herr Bach. Ich
möchte Sie auf der Stelle um eine Gefälligkeit bitten. Meine Damen und
Herren, heute Abend soll unser Freund die neuen, von Silbermann erbauten
Klaviere ausprobieren. Und wir wollen ihm dabei zuhören. Ich bin begierig
zu erfahren, was Herr Bach von den neuen Instrumenten hält. Möchten Sie
zunächst einmal diese Instrumente ausprobieren?" „Gewiß doch, Majestät."
Musikbeispiel aus:
Choralsatz „Jesus bleibet meine Freude" aus der Kantate BWV 147
(Klavier)
Der alte Bach erholt sich rasch von seiner Verwirrung. Er wechselt von
einem Klavier zum anderen; im ganzen ein gutes Dutzend. Die Gäste stellen
ihm ein Thema und Bach legt an jedem Klavier seine unvergeßliche
Meisterschaft im Improvisieren an den Tag. Zum Schluß stellt ihm der
König selbst ein Thema und bittet ihn, über dieses Thema eine dreistimmige
Fuge zu spielen. Er ist entzückt, mit welcher Leichtigkeit und Glut sich
Bach der schweren Aufgabe entledigt. Darum schraubt er seine
Anforderungen noch höher und verlangt von Bach das Unmögliche: „Herr
136
Bach, machen Sie mir noch eine letzte Freude. Zum Abschluß dieses
herrlichen Konzertes möchte ich, daß Sie über mein Thema eine
sechsstimmige Fuge improvisieren." „Aber, Majestät, das ist nicht möglich,
beim besten Willen nicht. Ihr Thema ist zu kompliziert. Ich müßte lange im
Voraus darüber nachdenken."
Um sich nicht gänzlich geschlagen zu geben, improvisiert der alte Meister
eine sechsstimmige Fuge über ein eigenes Thema. Man kann sich nicht
vorstellen, wie außergewöhnlich auch diese Darbietung war. So viel
freundliche Aufnahme und Bewunderung von seiten eines großen
Herrschers bedeuten ungemein viel für den Meister. Um die Scharte
auszuwetzen, vor allem aber, um Friedrich II. eine Freude zu bereiten,
machte er sich gleich nach seiner Rückkehr daran, über das berühmte, zu
komplizierte Thema das sogenannte „Musikalische Opfer" zu komponieren,
das er dem König bereits zwei Monate später zusendet. Hört gut zu, wie die
verschiedenen Stimmen eingeführt werden.
Musikbeispiel aus:
Musikalisches Opfer BWV 1079 – Ricercare a 6
Nach dem „Musikalischen Opfer", drei Jahre vor seinem Tod, beginnt Bach
ein weiteres Werk dieser Art, das aber noch gewaltigere Ausmaße hat: „Die
„Kunst der Fuge". Die Partitur setzt sich aus 15 verschiedenen Fugen
zusammen und gilt als Bachs erhabenstes Werk. Leider konnte er es nicht
mehr vollenden. Bach hatte sich bis dahin stets guter Gesundheit erfreut.
Nun verschlechtert sich der Zustand seiner Augen rapide. Freunde
überreden ihn, sich von einem Arzt aus London behandeln zu lassen. Dieser
Arzt hat einen anderen berühmten Musiker, einen Zeitgenossen von Bach,
behandelt: Georg Friedrich Händel. Eine erste Operation ist ein Mißerfolg.
Die zweite Operation macht Bach fast blind und verschlechtert seinen
allgemeinen Gesundheitszustand bedenklich. Trotz seiner Krankheit
überarbeitet Bach einige Orgelwerke. Sein Schwiegersohn Altnikol und
seine Frau Anna Magdalena helfen ihm dabei. „Mein Sohn, ich fühle, wie
ich an Leib und Seele schwächer werde. Ich habe nicht mehr die Kraft, die
Noten selbst zu schreiben. Ich will dir einen Choral diktieren. Vielleicht ist
es mein letztes Werk." „Vater, ich bin bereit. Welchen Titel soll ich
niederschreiben?" „Schreibt: ‚Vor Deinen Thron tret ich hiermit‘."
137
Am 18. Juli 1750 wird Bach von Unwohlsein befallen, nachdem er aber
wieder neue Hoffnung schöpft. Für einen kurzen Augenblick stellt sich
seine normale Sehkraft wieder ein. Er sieht wie zuvor. Einige Stunden
später erleidet er einen Schlaganfall, dem sofort starkes Fieber folgt. Es sind
die letzten Tage seines Lebens.
Musikbeispiel aus:
Toccata, Adagio und Fuge für Orgel C-Dur BWV 564
Nach Bachs Tod lebt sein Name durch seine Söhne an allen Fürstenhöfen
Deutschlands weiter. Doch so bedeutend die Werke von Philipp Emanuel
oder Johann Christian Bach auch sein mögen, sie tragen nicht den Stempel
des Genies: Johann Sebastian. Man hat oft gesagt: „Es gibt nur einen Bach."
Aber es dauerte lange Zeit, bis die Welt diese Wahrheit auch wirklich
begriff. Andere große Musiker mußten Bach der Vergessenheit entreißen:
Mozart im 18. Jahrhundert, Mendelssohn im 19. Jahrhundert. Heute ist Bach
eine Institution. Sein Werk ist jung geblieben über die Jahrhunderte hinweg
und darum wird es von jeder Musikergeneration auf’s Neue leidenschaftlich
geliebt. Liebe Kinder, hoffentlich hat Euch diese kurze Begegnung mit Bach
Lust gemacht, die großartige tiefe Musik dieses Meisters näher
kennenzulernen.
Musikbeispiel aus:
Suite für Orchester D-Dur BWV 1068
Nach dieser „Begegnung" mit Johann Sebastian Bach bietet es sich an,
Begrifflichkeiten zu klären, die im Vorfeld der Erzählung noch nicht
explizit geklärt worden sind, wie z.B. die Begriffe „Polyphonie",
„Quodlibet", „Kanon", „Fuge", „Kontrapunkt" usw. Dies kann
folgendermaßen geschehen:
Beispiel Polyphonie:
Wenn über Bachs Musik gesprochen oder geschrieben wird, taucht immer
wieder ein bestimmter Begriff auf, den man unbedingt kennen sollte. Der
Begriff heißt Polyphonie, zu deutsch Mehrstimmigkeit.
X: Warum benutzt man ein Fremdwort, wenn es einen deutschen Ausdruck
dafür gibt?
138
Y: Weil Polyphonie so etwas wie ein Markenzeichen ist, das nur für eine
bestimmte Art von Mehrstimmigkeit verwendet werden darf.
Das Besondere an polyphoner Musik ist, daß zwei oder mehrere Stimmen
wie gleichberechtigte und gleichwertige Partner miteinander musizieren.
X: Also wie ist das? Wenn du jetzt irgendein Lied singst, und ich singe
gleichzeitig ein anderes Lied, dann sind wir doch gleichberechtigt und
gleichwertig, oder?
Y: Richtig!
X: Dann ist das also Polyphonie?
Y: Auch richtig.
X: Aber das klingt doch zum Davonlaufen.
Y: Eben! Das darf natürlich nicht sein; und es muß auch nicht sein. Darin
besteht die Kunst des Komponisten: so zu komponieren, daß die Stimmen
trotzdem gut zusammen passen, obwohl sie selbständig sind.
X: Na so was.
Beispiel Quodlibet:
Johann Sebastian hat wahrscheinlich schon als Kind öfter an einem
musikalischen Gesellschaftsspiel teilgenommen, das in der Familie Bach
und überhaupt unter Musikliebhabern sehr beliebt war. Quodlibet heißt das
Spiel, zu deutsch: Was beliebt. Dabei werden „nach Belieben" verschiedene
Lieder gleichzeitig gesungen; es darf jedoch kein Mißklang entstehen.
Beispiel Kanon:
Was ein Kanon ist, wißt ihr sicher. Auch dabei sind die Stimmen
gleichberechtigt und gleichwertig.
X: Wieso?
Y: Hast du schon mal bei einem Kanon mitgesungen?
X: Ja, gestern erst – in der Schule.
Y: Und wie ging das?
X: Weißt du doch. Eine Gruppe fängt an, dann kommt die zweite dazu und
dann die dritte [...]
Y: Und welche Gruppe singt die Hauptstimme?
139
X: Die Hauptstimme? Hm [...] jede Gruppe natürlich. Die singen doch alle
dieselbe Melodie.
Y: Genau! Und weil jede Stimme Hauptstimme ist, sind sie alle
gleichberechtigt und gleichwertig. Okay?
X: Okay!
Beispiel Fuge:
Der Anfang einer Fuge ist ähnlich wie beim Kanon: Die erste Stimme trägt
das Thema vor, dann setzen nacheinander die anderen mit dem gleichen
Thema ein. So entsteht der Eindruck einer Verfolgung oder Flucht. Daher
kommt auch der Name. Fuga (lat.) heißt nämlich Flucht.
Streckenweise laufen die Stimmen aber auch nebeneinander her, als hätten
sie nichts miteinander zu tun – wie beim Quodlibet.
Beispiel Kontrapunkt:
Er bedeutet ungefähr das gleiche wie Polyphonie. Genaugenommen heißt
das lateinische Wort „Contrapunctus" Gegennote; gemeint ist Gegenmelodie
oder Gegenstimme. So ist zum Beispiel bei dem Quodlibet die obere
Stimme der Kontrapunkt (= die Gegenmelodie) zur unteren Stimme und
umgekehrt.
Meister des Kontrapunkts wird Bach gern genannt, weil er es wie kein
anderer verstand, Melodien und Gegenmelodien auf besonders raffinierte
Weise miteinander zu verknüpfen. Ebensogut könnte man ihn auch Meister
der Polyphonie nennen.
X: Gibt’s denn auch noch ’ne andere Phonie?
Y: Wie bitte?
X: Na, etwas anderes als Poly-phonie?
Y: Klar! Wenn du ein Lied singst und ich mit der Gitarre ein paar Akkorde
dazu spiele, dann nennt man das Homophonie.
X: Und was heißt Homophonie auf deutsch?
Y: Gleichklang.
X: Immer diese Fremdwörter!
140
Am Ende dieser Unterrichtssequenz könnte ein kleiner Test geschrieben
werden, der als Lernzielkontrolle die erworbenen Kenntnisse der Kinder
wiederspiegelt. Dieser könnte folgendermaßen aufgebaut sein:
Test: Musik Name:
1. In welchem Jahr wurde J. S. Bach geboren?
2. Wie hieß J. S. Bach mit ganzem Vornamen?
3. Bach hat Musik geschrieben. Wie nennt man ihn deshalb?
4. Welche Art von Musik hat er in der Regel komponiert?
5. Zu wessen Ehren schrieb er seine Musik?
6. Welches Instrument bevorzugte Bach?
7. Bach hatte viele Kinder. Hatte seine Tätigkeit auf sie einen Einfluß?
Wenn ja, welchen?
8. Im Alter wurde J. S. Bach blind. Worin sieht man einen der Gründe?
9. Erkläre, was ein Quodlibet ist! Denke an das „Familienfest" der Bachs.
10. Kennst Du ein oder einige „Werke" von J. S. Bach?
11. Weißt Du noch Einzelheiten aus Bachs Leben? Wenn ja, schreibe sie in
Stichpunkten auf!
Erreichte Punktzahl:
Note:
Eine alternative Unterrichtssequenz, die sich besonders für die
Jahrgangsstufen drei und vier eignet, könnte auch wie folgt gestaltet
werden:
Der Einstieg kann damit beginnen, daß der Lehrer den Schülern ein Bild
von einer Orgel zeigt. Die Schüler versuchen nun das Instrument zu
beschreiben und zu benennen. Es wäre sinnvoll, den Schülern einen Impuls
zu geben: „Vor etwa 300 Jahren sollte in der Stadt Dresden ein Wettbewerb
zwischen zwei Orgelspielern stattfinden!" Zu diesem Sachverhalt liest der
Lehrer nun folgenden Text vor: „Vor ungefähr 300 Jahren fand in der Stadt
Dresden ein musikalischer Wettkampf zwischen einem französischen und
einem deutschen Orgelspieler statt: Die Zuhörer sollten entscheiden, wer
von beiden besser spielen konnte. Der deutsche Orgelspieler übte schon
einige Tage vorher, während sich der französische Musiker dachte: ‚Ich
gewinne auch ohne Üben.‘ Aber er schlich sich eines Abends in die Kirche,
141
um zu hören, wie sein Gegner spielte. Zu seinem größten Schrecken mußte
er feststellen, daß das Orgelspiel des Deutschen viel schöner klang als sein
eigenes. Mit der nächsten Postkutsche fuhr er auf und davon. So spielte am
nächsten Tag vor den Zuhörern nur der deutsche Musiker. Sein Name war
Johann Sebastian Bach."131 Nach diesem vorgelesenen Text deckt der
Lehrer anschließend ein Portrait von Bach auf, welches auf einer Folie
abgebildet ist. Es wäre denkbar, die Schüler gleichzeitig mit einer
Zielangabe zu konfrontieren: „Du wirst heute mehr über das Leben von
Johann Sebastian Bach erfahren!" Im weiteren Verlauf kann sich eine erste
Textbegegnung mit folgendem Arbeitsauftrag anschließen: „Lies den ersten
Abschnitt leise!" Dabei wäre eine Differenzierung für schnelle Leser
wünschenswert: „Unterstreiche die Antworten auf die Fragen im Text!" Der
Lehrer teilt nun die Blätter mit dem Lesetext und den Fragen zum Text aus:
„Johann Sebastian Bach
Johann Sebastian Bach wurde im Jahre 1685 als jüngstes von acht Kindern
geboren. Schon als kleiner Junge brachte er sich selbst das Spielen auf der
Geige und dem Clavichord bei. Als er neun Jahre alt war, starb plötzlich
seine Mutter und ein Jahr später auch sein Vater. Johann Sebastian Bach
wurde in der Familie seines ältesten Bruders aufgenommen. Dieser
unterrichtete den kleinen Bruder nun auch im Cembalospielen.
Schon bald aber wurden Johann Sebastian Bach die Übungsstücke zu
langweilig. Zu gerne wollte er aus dem Notenheft seines Bruders spielen.
Dieses Heft lag jedoch in einem Schrank hinter einer verschlossenen
Gittertür.
Johann Sebastian sollte es erst benützen, wenn er einmal älter wäre.
Trotzdem schlich er sich in der Nacht zu dem Schrank, holte durch die
Gitterstäbe das Heft heraus und begann die Noten der Musikstücke
abzuschreiben. Weil damals Kerzen sehr teuer waren, konnte er nur im
Licht des Vollmondes schreiben. So dauerte es ein halbes Jahr, bis er das
ganze Heft abgeschrieben hatte. Wenn der Bruder tagsüber aus dem Haus
war, spielte er die Stücke dann auf dem Cembalo. Eines Tages aber
131 Andrea Bachmeyer/Martina Holzinger/Susanne Walter: Klassische Musik in der
Grundschule (Mozart & Co.), praxiserprobte Stundenbilder mit Kopiervorlagen, Auer
Verlag GmbH, Donauwörth 1996, S. 13.
142
erwischte ihn sein Bruder dabei und mußte einsehen, daß Johann Sebastian
schon besser spielen konnte als er selbst. Von nun an durfte Johann
Sebastian das Orgelspiel erlernen, und er begann auch, selbst Stücke zu
schreiben.
Mit den Jahren wurde Bach immer berühmter: Er komponierte ständig neue
Werke und arbeitete in verschiedenen Städten als Organist. 1723 zog er mit
seiner Frau und seinen zehn Kindern nach Leipzig. Dort wurde er Kantor an
der Thomaskirche, das heißt, er spielte Orgel, schrieb Stücke für die Messen
und leitete den Kirchenchor.
Johann Sebastian Bach starb 1750 und hinterließ die wunderbarsten
Musikstücke, die noch heute viele Menschen begeistern.
Unterstreiche im Text die Antworten auf folgende Fragen:
- Wann wurde Johann Sebastian Bach geboren?
- Welche Instrumente konnte er spielen?"132
Nachdem die Blätter mit dem Lesetext und den Fragen zum Text ausgeteilt
worden sind, lesen die Schüler den Arbeitstext leise und erledigen den
Differenzierungsauftrag.
Im Anschluß an diese erste Textbegegnung sollte es dann zu einer
Texterschließung kommen, indem die Schüler den ersten Abschnitt laut
lesen und den Inhalt zusammenfassen. Anschließend sollten die Fragen zum
Text beantwortet werden. Der Lehrer trägt das Geburtsdatum von Bach z.B.
auf die Folie ein und deckt dann die Instrumentenbilder der Folie auf. Ein
Schüler bzw. der Lehrer benennt die Instrumente und gibt kurze
Informationen dazu:133
a) die Geige (= Violine): kleinstes Instrument der Violinfamilie, hat 4
Saiten und wird meist mit dem Bogen gespielt;
b) das Clavichord: altes Tasteninstrument, bei dem die Saiten mit einem
Metallstift berührt werden;
c) das Cembalo: Tasteninstrument, bei dem die Saiten mit Federkielen
angezupft werden;
132 ebd., S. 10.
133 Vgl. ebd., S. 8.
143
d) die Orgel: Tasteninstrument mit verschieden langen Pfeifen, die Töne
erzeugen, wenn Luft durchgeleitet wird.
An dieser Stelle wäre es nun angebracht, daß der Lehrer den Schülern
folgenden Hörauftrag erteilt: „Überlege, welches Instrument erklingt!" Der
Lehrer spielt jetzt ein Hörbeispiel vor, in dem die Instrumente in der
Abfolge Cembalo – Orgel – Geige – Clavichord vorgestellt werden:134
J. S. Bach Cembalo: Französische Suite Nr. 1, BWV 812
J. S. Bach Orgel: Toccata und Fuge, BWV 565
J. S. Bach Geige: 2. Violinkonzert, BWV 1042, 1. Satz
C. Ph. E. Bach Clavichord: Sonata 6, Wq 63, 1. Satz.
Die Namen der gehörten Instrumente werden anschließend vom Lehrer auf
die entsprechende Folie eingetragen. In einer zweiten Textbegegnung gibt
der Lehrer den Schülern den Impuls: „Du weißt, daß Johann Sebastian Bach
auch ein Meister des Orgelspiels war!" Ein entsprechender Arbeitsauftrag
schließt sich nun an: „Jetzt kannst du selbst nachlesen, wie es dazu kam!"
Die Schüler lesen den Text laut zu Ende. Eine Texterschließung mit
folgendem Impuls wäre ratsam: „Du hast gelesen, was J. S. Bach anstellte,
als er bei seinem großen Bruder wohnte!" Der Lehrer deckt nun ein Bild
von Notenheften auf und die Schüler geben den Inhalt des zweiten
Textabschnittes wieder. Ein erneuter Impuls an die Schüler wäre hilfreich:
„Als erwachsener Mann wurde J. S. Bach sehr berühmt!" Die Schüler fassen
den Inhalt des dritten und vierten Textabschnitts zusammen. Ein weiterer
Arbeitsauftrag könnte dann wie folgt lauten: „Kreuze die richtigen Sätze auf
deinem Arbeitsblatt an!" Anschließend werden Arbeitsblätter ausgeteilt und
die Schüler bearbeiten die entsprechende Aufgabe auf dem ausgeteilten
Arbeitsblatt, wobei eine Kontrolle mit Hilfe einer adäquaten Folie sinnvoll
erscheint:
„Kreuze die richtigen Sätze an!
a) Johann Sebastian Bach spielte nur auf dem Cembalo.
b) Johann Sebastian Bach spielte verschiedene Instrumente und
komponierte viele Werke.
a) Er war Kantor an der Thomaskirche in Wien.
b) Er war Kantor an der Thomaskirche in Leipzig.
144
a) Als Kantor mußte er täglich die Glocken läuten.
b) Als Kantor spielte er Orgel, schrieb Stücke und leitete den Kirchenchor.
a) Johann Sebastian Bach starb im Jahre 1750.
b) Johann Sebastian Bach starb im Jahre 1650."135
Am Ende dieser Unterrichtseinheit scheint eine Zusammenfassung mit
einem an die Schüler gerichteten Impuls angebracht zu sein: „Du hast
einiges über das Leben J. S. Bachs erfahren!" Die Schüler fassen den
Stundeninhalt mündlich zusammen und tragen die Lebensdaten und die
Instrumentennamen auf ihr Arbeitsblatt ein. Ein letzter Impuls des Lehrers
während dieser Unterrichtseinheit könnte folgendermaßen lauten: „J. S.
Bach hat als Kind die Noten vieler Stücke abgeschrieben!" Dieser Impuls
könnte schließlich mit einem letzten Arbeitsauftrag verbunden werden:
„Versuche, die alte Notenschrift auf deinem Arbeitsblatt in die leeren Zeilen
zu übertragen!" Auf ihrem Arbeitsblatt befindet sich links ein Ausschnitt
mit alter Notenschrift in traditionellem Notensystem. Rechts daneben
befindet sich ebenfalls ein traditionelles Notensystem, welches jedoch
logischerweise unausgefüllt ist. Die Schüler versuchen nun diese Aufgabe
auf dem Arbeitsblatt zu lösen und äußern im Rundgespräch ihre
Erfahrungen.
Die Lernziele dieser Unterrichtseinheit lassen sich folgendermaßen
zusammenfassen:
- Herausarbeiten der wichtigsten Informationen über das Leben J. S.
Bachs
- Kennenlernen einiger Instrumente des Barocks.
Das Material zu dieser Unterrichtseinheit bestünde im wesentlichen aus
einem Lesetext, einem Arbeitsblatt mit entsprechender Folie für den
Tageslichtprojektor, einer zweiten Folie und einem Hörbeispiel. Die
Unterrichtseinheit kann 45 Minuten oder aber auch, je nach Leistungsstand
der Schüler, 90 Minuten betragen.
Während die erste Unterrichtseinheit dieser alternativen Unterrichtssequenz
hauptsächlich aus Lesen der Lebensbeschreibung Johann Sebastian Bachs
und dem Bearbeiten von Arbeitsblättern bestand, sollte nun in einer zweiten
134 Vgl. ebd., S. 7.
135 ebd., S. 11.
145
Unterrichtseinheit das Musikhören im Mittelpunkt stehen. Der
Unterrichtsverlauf beginnt z.B. mit einer Einstimmung:
Zunächst hängt der Lehrer ein Portrait von J. S. Bach an die Tafel.
Anschließend informiert er bzw. ein Schüler kurz über das Leben Bachs
(evtl. mit Hilfe des Textes aus der Lesestunde). Daraufhin hält der Lehrer
die Lebensdaten an der Tafel fest und gibt den Schülern einen Impuls: „J. S.
Bach war Kantor in Leipzig, aber er hat nicht nur Kirchenmusik
komponiert!" Es wäre nun sinnvoll z.B. ein Bild mit einer Tanzszene an die
Tafel zu hängen und die Schüler das Bild beschreiben zu lassen, wobei
folgender Kommentar der Schüler denkbar wäre: „Bach komponierte auch
Tanzmusik." Nach der Bildbeschreibung durch die Schüler hält der Lehrer
das Ergebnis an der Tafel fest und gibt ihnen eine Zielangabe: „Wir tanzen
nach der Musik von J. S. Bach!" Diese Zielangabe wird ebenfalls an der
Tafel festgehalten.
Der Einstimmung sollte nun eine Werkbegegnung mit einem Arbeitsauftrag
folgen: „Betrachte das Bild und versuche, uns vorzuführen, wie die Leute
damals tanzten!" In einer Partnerübung führen je zwei Schüler selbst
erfundene Tanzelemente vor. Anschließend gibt der Lehrer den Schülern
einen weiteren Impuls: „Du bist sicher gespannt, wie die Tanzmusik von
J. S. Bach klingt. Das Stück, das du gleich hören wirst, heißt ‚Badinerie‘.
Das ist ein altes Wort für ein lustiges Musikstück." Daraufhin ergänzt der
Lehrer die Tafelanschrift und erteilt den Schülern den ersten Hörauftrag:
„Hör die Musik und versuche, dazu zu klatschen!" Der Lehrer spielt nun das
entsprechende Hörbeispiel vor (= Teil A mit Wiederholung) und klatscht
auf jede zweite Viertel (siehe Markierung * im Notenbild):
J. S. Bach Suite Nr. 2, BWV 1067 „Badinerie".
Nachem das Hörbeispiel verklungen ist folgt der zweite Hörauftrag: „Hör
auf die Musik und versuche, dazu zu gehen! Berühre dabei deine Mitschüler
nicht!" Dabei kann der Lehrer die Klasse hier in zwei Gruppen teilen:
Während die erste Gruppe nochmals klatscht, kann die zweite Gruppe
gehen. Anschließend wird getauscht. Es wird nun wieder das entsprechende
Hörbeispiel vorgespielt (= Teil B mit Wiederholung):
J. S. Bach Suite Nr. 2, BWV 1067 „Badinerie".
146
Im Anschluß daran fassen die Schüler ihre Erfahrungen zusammen:
Schnelles Tempo erfordert kleine Schritte.
Im weiteren Unterrichtsverlauf kommt es dann zum Einüben der
Tanzschritte:
- Takt: 2/4
- Teile: AABB
- Aufstellung: zwei parallele Reihen. In jeder Reihe stehen die Schüler
hintereinander.
- Jeder Teil des Tanzes soll zuerst ohne, dann mit Musik geübt werden.
Wenn beide Teile sicher beherrscht werden, sollen sie in der Abfolge
AABB getanzt werden.
Der Tanz in Gesamtlänge (AABB) wird zu dem entsprechenden Hörbeispiel
geübt:
J. S. Bach Suite Nr. 2, BWV 1067 „Badinerie".
Auf die letzte Note des Stücks können alle Tänzer einen Kniefall, Knicks
o.ä. machen.
Eine Zusammenfassung bzw. Wertung wäre am Ende dieser zweiten
Unterrichtseinheit mit folgendem Impuls denkbar: „Sicher hast du auf einem
Fest schon einmal anders getanzt!" Die Schüler berichten dann von ihren
Erfahrungen und vergleichen heutige Tanzmusik bzw. Tanzformen mit
Tanzmusik von Bach.
Die Lernziele dieser Unterrichtseinheit lassen sich folgendermaßen
zusammenfassen:
- Bewußtes Hören des entsprechenden Werkes von Johann Sebastian
Bach: Suite Nr. 2, BWV 1067 „Badinerie"
- Umsetzen des Rhythmus in Bewegung
- Erlernen eines Tanzes.
Das Material zu dieser Unterrichtseinheit bestünde im wesentlichen aus
einem Portrait von Bach, einem Bild mit Tanzszene und den entsprechenden
Hörbeispielen (s. oben). Die Unterrichtseinheit kann 45 Minuten oder aber
auch, je nach Leistungsstand der Schüler, 90 Minuten betragen.
147
Mit diesen beiden Unterrichtseinheiten wären sogleich im wesentlichen
zwei wichtige Bereiche abgedeckt: „Musik hören" und „Musik
umsetzen".136
Um diese alternative Unterrichtssequenz abschließen zu können, wäre auch
hier eine Lernzielkontrolle angebracht. Diese könnte wie folgt gestaltet
werden:137
Name: Klasse: Datum: Lernzielkontrolle
Johann Sebastian Bach: Badinerie
1. Hier stimmt manches nicht. Streich durch, was falsch ist!
Johann Sebastian Bach lebte von
a) 1750 bis 1785
b) 1685 bis 1750
Als seine Eltern gestorben waren, wohnte er in der Familie
a) seines Onkels.
b) seines ältesten Bruders.
Dieser unterrichtete ihn im Spiel auf
a) dem Cembalo und der Orgel.
b) der Gitarre und dem Klavier.
Bach wurde sehr berühmt,
a) weil er ein guter Sänger war.
b) weil er viele wunderbare Werke komponierte.
Er arbeitete in Leipzig
a) als Kantor.
b) als Priester.
2. Schon als Kind konnte J. S. Bach mehrere Instrumente spielen.
Schreib die Namen der Instrumente zu den Bildern!
Gitarre – Cembalo – Trompete – Zither – Orgel – Flöte – Geige – Pauke
– Clavichord
136 Vgl. Richtlinien und Lehrpläne für die Grundschule, Musik. Runderlaß des
Kultusministers des Landes Nordrhein-Westfalen, Köln 1985, S. 21 u. 23-24.
137 Vgl. Andrea Bachmeyer/Martina Holzinger/Susanne Walter: Klassische Musik in der
Grundschule (Mozart & Co.), praxiserprobte Stundenbilder mit Kopiervorlagen, Auer
Verlag GmbH, Donauwörth 1996, S. 19.
148
Auf vier Bildern sind jeweils eine Orgel, eine Geige, ein Clavichord und
ein Cembalo abgebildet und die Schüler müssen nun zu jedem Bild das
entsprechende Instrument schreiben.
3. Du hast zur Musik von J. S. Bach getanzt. Erinnere dich an die
Tanzschritte und kreuze sie an!
Auf vier Bildern sind jeweils verschiedene Tanzschrittvarianten
abgebildet, von denen zwei den Schülern bekannt sind. Sie haben nun
die Aufgabe, aus diesen vier Bildern die zwei bekannten Bilder mit den
ihnen vertrauten Tanzschritten anzukreuzen.
7. Die Kantaten J. S. Bachs in der Grundschule
Zunächst soll anhand zweier Kantaten verdeutlicht werden, wie man die
Kantaten von Johann Sebastian Bach im Unterricht der Primarstufe
christlicher Privatschulen vornehmlich in der 4. Klasse einsetzen kann:
Choralvorspiel zur Kantate BWV 140 „Wachet auf, ruft uns die Stimme":
Choralvorspiele haben eigentlich einen ganz bestimmten Zweck: sie sollen
der Gemeinde ankündigen, welches Lied jetzt gesungen wird, und sie sollen
den richtigen Ton angeben. Es genügt also, wenn der Organist den Anfang
des Liedes vorspielt. Viele Organisten machen das auch so. Bach nicht.
Unter seinen Händen wird daraus jedesmal ein kleines Konzertstück. Kein
Wunder, daß man seine Choralvorspiele heute öfter in Kirchenkonzerten
oder Rundfunksendungen als im Gottesdienst hört – ohne anschließenden
Gemeindegesang. Einige sind sogar in verschiedenen Jazz- und
Popbearbeitungen zu haben; darunter auch unser Choralvorspiel „Wachet
auf, ruft uns die Stimme".
X: Nur gut, daß Bach das nicht mehr erlebt hat.
Y: Was?
X: Daß man seine Choralvorspiele zu Pop- und Jazznummern umarbeitet.
Y: Du, ich glaube nicht, daß er sich darüber geärgert hätte. Er hat ja seine
Werke zum Teil selbst bearbeitet. Das Choralvorspiel „Wachet auf [...]" war
149
zum Beispiel ursprünglich gar kein Choralvorspiel, sondern ein Satz aus
einer Kirchenkantate. Und da hört sich das ganz anders an: mit Geigen und
Gesang ...
X: Na gut, aber das ist beides Kirchenmusik. Popmusik ist doch was ganz
anderes.
Y: Kirchenmusik? So eng darf man das, glaube ich, nicht sehen. Zu Bachs
Zeiten hat man Choralbearbeitungen nicht nur in der Kirche, sondern auch
zu Hause gesungen und gespielt. Und überhaupt: Bach hat öfter mal Stücke
für andere Zwecke umgearbeitet – auch Stücke von fremden Komponisten.
Deshalb glaube ich nicht, daß er ...
X: Ich glaube doch! Choräle im Popsound – das kommt mir fast vor wie
eine Gotteslästerung. Auf jeden Fall ist es geschmacklos!
Das Choralvorspiel „Wachet auf [...]" erinnert an das Quodlibet-Modell. Zu
Beginn erklingt eine fröhliche, fast tänzerische Melodie, die scheinbar mit
dem Choral überhaupt nichts zu tun hat. Erst bei der Wiederholung gesellt
sich die Choralmelodie dazu. (Der Organist wird die Choralmelodie auf
einem anderen Manual spielen, damit sie sich gut abhebt.) Und das
Überraschende: Diese beiden Melodien, die so gegensätzlich im Charakter
sind – sie passen zusammen, als seien sie füreinander gemacht. Dabei gab es
den Choral lange vor Bach. Aber durch seine „Gegenmelodie" ist das Lied
in der ganzen Welt bekannt geworden.
Zum Mitmachen: „Jesus bleibet meine Freude" aus BWV 147 „Herz und
Mund und Tat und Leben":
Wieder ein Choral, der durch Bachs Bearbeitung zum Evergreen wurde.
Wieder aus einer Kirchenkantate. Diesmal hat Bach das Stück allerdings
nicht, wie bei dem vorigen Beispiel, zu einem Choralvorspiel
umgeschrieben. Das haben andere getan. Heute kann man es in den
verschiedensten Fassungen hören: für Orgel, für Klavier, für Synthesizer,
für Popgruppen ... und natürlich in der Originalfassung für Chor und
Orchester. Für unseren Zweck wählen wir die Synthesizer-Fassung.
Zu Anfang erklingt eine wiegende Gegenmelodie (Kontrapunkt); später
kommt die Choralmelodie hinzu.
150
Die Choralmelodie besteht aus lauter kleinen Tonschritten (Intervallen)
und eignet sich daher gut zum Mitmachen. Die Schüler können sie
1. mitsingen (auf Text)
2. mitsummen (auf du-du-du)
Wer nicht so hoch hinaufkommt, darf eine Oktave tiefer singen oder
summen.
3. mitspielen (auf Orff-Instrumenten und Blockflöte)
4. durch einen improvisierten Begleitrhythmus poppiger gestalten.
Die Schüler können aber auch mehrere dieser Möglichkeiten
miteinander kombinieren.
Ein paar praktische Hinweise:
- Normalerweise wird der Choral im 4/4-Takt gesungen. Wer ihn so
kennt, muß umlernen.
- Zum Mitsingen oder –spielen muß die Melodie zunächst ohne
MC/CD eingeübt werden.
- Das Mitspielen auf Orff-Instrumenten läßt sich erleichtern, wenn
man die Melodieabschnitte (römische Ziffern) auf verschiedene
Gruppen verteilt.
- Bei der rhythmischen Begleitung müssen sich die Schüler an dem
Triolenrhythmus der Oberstimme orientieren.
Im Vorfeld der Behandlung und Vorstellung dieser beiden Beispiele sollten
natürlich zuerst wichtige Begriffe erklärt werden, z.B. der Begriff
„Kantate": „Kantate = kürzeres Werk für Gesang und Instrumente (ital./lat.
„cantare" = singen). Aufführungsdauer: etwa 30 Minuten. Der Text kann
weltlich (z.B. Geburtstagskantate) oder geistlich sein (Kirchenkantate)."138
Diese beiden oben aufgeführten Beispiele decken den Bereich „Musik
machen" und „Musik hören" ab. Wichtig wäre es auch, die Bedeutung der
Liedtexte den Schülern im Unterricht verständlich zu machen. Beim ersten
Beispiel „Wachet auf, ruft uns die Stimme" erscheint es doch unerläßlich zu
sein, auf das Gleichnis von den zehn Jungfrauen näher einzugehen, um den
Schülern ein Verständnis von der Bedeutung des Liedtextes zu vermitteln.
151
Da dem Singen im Unterricht der Primarstufe ein hoher Stellenwert
beigemessen wird, soll nun anhand einer Auflistung gezeigt werden, welche
Lieder bzw. Choräle im Unterricht verwendet werden können:
Die Choralmelodien der Kantaten139:
EKG
Ach Gott und Herr: 168
BWV 48 „Ich elender Mensch, wer wird mich erlösen"
Ach Gott, vom Himmel sieh darein: 177
BWV 2 „Ach Gott, vom Himmel sieh darein"
BWV 77 „Du sollst Gott, deinen Herren, lieben"
BWV 153 „Schau, lieber Gott, wie meine Feind"
Ach wie flüchtig, ach wie nichtig: 327
BWV 26 „Ach wie flüchtig, ach wie nichtig"
Allein Gott in der Höh sei Ehr: 131
BWV 104 „Du Hirte Israel, höre"
BWV 112 „Der Herr ist mein getreuer Hirt"
Allein zu dir, Herr Jesu Christ: 166
BWV 33 „Allein zu dir, Herr Jesu Christ"
Auf meinen lieben Gott: 289
BWV 5 „Wo soll ich fliehen hin"
BWV 89 „Was soll ich aus dir machen, Ephraim?"
BWV 136 „Erforsche mich, Gott, und erfahre mein Herz"
BWV 148 „Bringet dem Herrn Ehre seines Namens"
BWV 188 „Ich habe meine Zuversicht"
138 Heinz Meyer, Begegnung mit Johann Sebastian Bach, Frankfurt am Main 1988, S. 43.
139 Vgl. Werner Neumann, Handbuch der Kantaten Johann Sebastian Bachs, Wiesbaden, 5.
Aufl., 1984, S. 274-276. Die EKG-Nummern sind entnommen aus: („altes") Evangelisches
Kirchengesangbuch, Ausgabe für die Landeskirchen Rheinland, Westfalen und Lippe,
152
Aus tiefer Not schrei ich zu dir: 195
BWV 38 „Aus tiefer Not schrei ich zu dir"
Christ ist erstanden: 75
BWV 66 „Erfreut euch, ihr Herzen"
Christ lag in Todesbanden: 76
BWV 4 „Christ lag in Todes Banden"
BWV 158 „Der Friede sei mit dir"
Christ unser Herr zum Jordan kam: 146
BWV 7 „Christ unser Herr zum Jordan kam"
BWV 176 „Es ist ein trotzig und verzagt Ding"
Christe, du Lamm Gottes: 136
BWV 23 „Du wahrer Gott und Davids Sohn"
BWV 127 „Herr Jesu Christ, wahr’ Mensch und Gott"
Christum wir sollen loben schon: 403
BWV 121 „Christum wir sollen loben schon"
Christus, der ist mein Leben: 316
BWV 95 „Christus, der ist mein Leben"
Dies sind die heilgen zehn Gebot: 240
BWV 77 „Du sollst Gott, deinen Herren, lieben"
Luther-Verlag GmbH, Bielefeld bzw. Neukirchener Verlag des Erziehungsvereins GmbH,
Neukirchen-Vluyn.
153
Du Friedefürst, Herr Jesu Christ: 391
BWV 67 „Halt im Gedächtnis Jesum Christ"
BWV 116 „Du Friedefürst, Herr Jesu Christ"
BWV 143 „Lobe den Herrn, meine Seele"
Durch Adams Fall ist ganz verderbt: 243
BWV 18 „Gleichwie der Regen und Schnee vom Himmel fällt"
BWV 109 „Ich glaube, lieber Herr, hilf meinem Unglauben!"
Ein feste Burg ist unser Gott: 201
BWV 80 „Ein feste Burg ist unser Gott"
Erhalt uns, Herr, bei deinem Wort: 142
BWV 6 „Bleib bei uns, denn es will Abend werden"
BWV 126 „Erhalt uns, Herr, bei deinem Wort"
Ermuntre dich, mein schwacher Geist: 24
BWV 11 „Lobet Gott in seinen Reichen" (Himmelfahrts-Oratorium)
BWV 43 „Gott fähret auf mit Jauchzen"
BWV 248II „Und es waren Hirten in derselben Gegend"
Erschienen ist der herrlich Tag: 80
BWV 67 „Halt im Gedächtnis Jesum Christ"
BWV 145 „Ich lebe, mein Herze, zu deinem Ergötzen"
Es ist das Heil uns kommen her: 242
BWV 9 „Es ist das Heil uns kommen her"
BWV 86 „Wahrlich, wahrlich, ich sage euch"
BWV 117 „Sei Lob und Ehr dem höchsten Gut"
BWV 155 „Mein Gott, wie lang, ach lange"
BWV 186 „Ärgre dich, o Seele, nicht"
Es ist gewißlich an der Zeit: 120
BWV 248VI „Herr, wenn die stolzen Feinde schnauben"
154
Es woll uns Gott genädig sein: 182
BWV 69 „Lobe den Herrn, meine Seele"
BWV 76 „Die Himmel erzählen die Ehre Gottes"
Freu dich sehr, o meine Seele: 319
BWV 13 „Meine Seufzer, meine Tränen"
BWV 19 „Es erhub sich ein Streit"
BWV 25 „Es ist nichts Gesundes an meinem Leibe"
BWV 30 „Freue dich, erlöste Schar"
BWV 32 „Liebster Jesu, mein Verlangen"
BWV 39 „Brich dem Hungrigen dein Brot"
BWV 70 „Wachet! betet! betet! wachet!"
BWV 194 „Höchsterwünschtes Freudenfest"
Freuet euch, ihr Christen alle: 25
BWV 40 „Dazu ist erschienen der Sohn Gottes"
Gelobet seist du, Jesu Christ: 15
BWV 64 „Sehet, welch eine Liebe hat uns der Vater erzeiget"
BWV 91 „Gelobet seist du, Jesu Christ"
BWV 248I „Jauchzet, frohlocket, auf, preiset die Tage"
BWV 248III „Herrscher des Himmels, erhöre das Lallen"
Gott des Himmels und der Erden: 345
BWV 248V „Ehre sei dir, Gott, gesungen"
Herr Christ, der einig Gotts Sohn: 46
BWV 22 „Jesus nahm zu sich die Zwölfe"
BWV 96 „Herr Christ, der einge Gottessohn"
BWV 132 „Bereitet die Wege, bereitet die Bahn!"
BWV 164 „Ihr, die ihr euch von Christo nennet"
155
Herr Gott, dich loben alle wir: 115
BWV 130 „Herr Gott, dich loben alle wir"
Herr Gott, dich loben wir: 137
BWV 16 „Herr Gott, dich loben wir"
BWV 119 „Preise, Jerusalem, den Herrn"
BWV 120 „Gott, man lobet dich in der Stille"
BWV 190 „Singet dem Herrn ein neues Lied!"
Herr Jesu Christ, du höchstes Gut: 167 = 158
BWV 48 „Ich elender Mensch, wer wird mich erlösen"
BWV 113 „Herr Jesu Christ, du höchstes Gut"
BWV 168 „Tue Rechnung! Donnerwort"
Herr, wie du willst, so schicks mit mir: 285
BWV 156 „Ich steh mit einem Fuß im Grabe"
Herzlich lieb hab ich dich: 247
BWV 19 „Es erhub sich ein Streit"
BWV 149 „Man singet mit Freuden vom Sieg in den Hütten der Gerechten"
BWV 174 „Ich liebe den Höchsten von ganzem Gemüte"
Herzlich tut mich verlangen: 63
BWV 25 „Es ist nichts Gesundes an meinem Leibe"
BWV 135 „Ach Herr, mich armen Sünder"
BWV 153 „Schau, lieber Gott, wie meine Feind"
BWV 159 „Sehet, wir gehn hinauf gen Jerusalem"
BWV 161 „Komm, du süße Todesstunde"
BWV 248I „Jauchzet, frohlocket, auf, preiset die Tage"
BWV 248VI „Herr, wenn die stolzen Feinde schnauben"
Ich dank dir, lieber Herre: 335
BWV 37 „Wer da gläubet und getauft wird"
156
Ich hab mein Sach Gott heimgestellt: 315
BWV 106 „Gottes Zeit ist die allerbeste Zeit" (Actus tragicus)
Ich ruf zu dir, Herr Jesu Christ: 244
BWV 177 „Ich ruf zu dir, Herr Jesu Christ"
BWV 185 „Barmherziges Herze der ewigen Liebe"
Jesu, meine Freude: 293
BWV 12 „Weinen, Klagen, Sorgen, Zagen"
BWV 64 „Sehet, welch eine Liebe hat uns der Vater erzeiget"
BWV 81 „Jesus schläft, was soll ich hoffen?"
BWV 87 „Bisher habt ihr nichts gebeten in meinem Namen"
Jesus, meine Zuversicht: 330
BWV 145 „Ich lebe, mein Herze, zu deinem Ergötzen"
Komm, heiliger Geist, Herre Gott: 98
BWV 59 „Wer mich liebet, der wird mein Wort halten"
BWV 172 „Erschallet, ihr Lieder, erklinget, ihr Saiten!"
BWV 175 „Er rufet seinen Schafen mit Namen"
Kommt her zu mir, spricht Gottes Sohn: 245
BWV 74 „Wer mich liebet, der wird mein Wort halten"
BWV 86 „Wahrlich, wahrlich, ich sage euch"
BWV 108 „Es ist euch gut, daß ich hingehe"
Lobe den Herren, den mächtigen König der Ehren: 234
BWV 57 „Selig ist der Mann"
BWV 137 „Lobe den Herren, den mächtigen König der Ehren"
Lobt Gott, ihr Christen alle gleich: 21
BWV 151 „Süßer Trost, mein Jesus kömmt"
BWV 195 „Dem Gerechten muß das Licht immer wieder aufgehen"
157
Machs mit mir, Gott, nach deiner Güt: 321
BWV 139 „Wohl dem, der sich auf seinen Gott"
BWV 156 „Ich steh mit einem Fuß im Grabe"
Meine Seel erhebt den Herren: 555
BWV 10 „Meine Seel erhebt den Herren"
Mit Fried und Freud ich fahr dahin: 310
BWV 83 „Erfreute Zeit im neuen Bunde"
BWV 95 „Christus, der ist mein Leben"
BWV 106 „Gottes Zeit ist die allerbeste Zeit" (Actus tragicus)
BWV 125 „Mit Fried und Freud ich fahr dahin"
Nun bitten wir den heiligen Geist: 99
BWV 169 „Gott soll allein mein Herze haben"
BWV 197 „Gott ist unsre Zuversicht"
Nun danket alle Gott: 228
BWV 79 „Gott der Herr ist Sonn und Schild"
BWV 192 „Nun danket alle Gott"
Nun komm, der Heiden Heiland: 1
BWV 36 „Schwingt freudig euch empor"
BWV 61 „Nun komm, der Heiden Heiland"
BWV 62 „Nun komm, der Heiden Heiland"
Nun laßt uns Gott, dem Herren: 227
BWV 79 „Gott der Herr ist Sonn und Schild"
BWV 165 „O heilges Geist- und Wasserbad"
BWV 194 „Höchsterwünschtes Freudenfest"
158
Nun lob, mein Seel, den Herren: 188
BWV 17 „Wer Dank opfert, der preiset mich"
BWV 28 „Gottlob! nun geht das Jahr zu Ende"
BWV 29 „Wir danken dir, Gott, wir danken dir"
BWV 51 „Jauchzet Gott in allen Landen!"
BWV 167 „Ihr Menschen, rühmet Gottes Liebe"
O Ewigkeit, du Donnerwort: 324
BWV 20 „O Ewigkeit, du Donnerwort"
BWV 60 „O Ewigkeit, du Donnerwort"
O Herre Gott, dein göttlich Wort: 117
BWV 184 „Erwünschtes Freudenlicht"
O Jesu Christ, meins Lebens Licht 317
(Ach Gott, wie manches Herzeleid):
BWV 3 „Ach Gott, wie manches Herzeleid"
BWV 44 „Sie werden euch in den Bann tun"
BWV 58 „Ach Gott, wie manches Herzeleid"
BWV 118 „O Jesu Christ, meins Lebens Licht"
BWV 153 „Schau, lieber Gott, wie meine Feind"
O Welt, ich muß dich lassen: 312
BWV 13 „Meine Seufzer, meine Tränen"
BWV 44 „Sie werden euch in den Bann tun"
BWV 97 „In allen meinen Taten"
Schmücke dich, o liebe Seele: 157
BWV 180 „Schmücke dich, o liebe Seele"
Singen wir aus Herzensgrund: 373
BWV 187 „Es wartet alles auf dich"
159
Straf mich nicht in deinem Zorn: 176
BWV 115 „Mache dich, mein Geist, bereit"
Valet will ich dir geben: 318
BWV 95 „Christus, der ist mein Leben"
Vater unser im Himmelreich: 241
BWV 90 „Es reißet euch ein schrecklich Ende"
BWV 101 „Nimm von uns, Herr, du treuer Gott"
BWV 102 „Herr, deine Augen sehen nach dem Glauben"
Verleih uns Frieden gnädiglich: 139
BWV 42 „Am Abend aber desselbigen Sabbats"
BWV 126 „Erhalt uns, Herr, bei deinem Wort"
Vom Himmel hoch, da komm ich her: 16
BWV 248I „Jauchzet, frohlocket, auf, preiset die Tage"
BWV 248II „Und es waren Hirten in derselben Gegend"
Von Gott will ich nicht lassen: 283
BWV 11 „Lobet Gott in seinen Reichen" (Himmelfahrts-Oratorium)
BWV 73 „Herr, wie du willt, so schicks mit mir"
BWV 107 „Was willst du dich betrüben"
Wachet auf, ruft uns die Stimme: 121
BWV 140 „Wachet auf, ruft uns die Stimme"
Wär Gott nicht mit uns diese Zeit: 192
BWV 14 „Wär Gott nicht mit uns diese Zeit"
Warum sollt ich mich denn grämen: 297
BWV 248III „Herrscher des Himmels, erhöre das Lallen"
160
Was Gott tut, das ist wohlgetan: 299
BWV 12 „Weinen, Klagen, Sorgen, Zagen"
BWV 69a „Lobe den Herrn, meine Seele"
BWV 75 „Die Elenden sollen essen"
BWV 98 „Was Gott tut, das ist wohlgetan"
BWV 99 „Was Gott tut, das ist wohlgetan"
BWV 100 „Was Gott tut, das ist wohlgetan"
BWV 144 „Nimm, was dein ist, und gehe hin"
Was mein Gott will, das g’scheh allzeit: 280
BWV 65 „Sie werden aus Saba alle kommen"
BWV 72 „Alles nur nach Gottes Willen"
BWV 92 „Ich hab in Gottes Herz und Sinn"
BWV 103 „Ihr werdet weinen und heulen"
BWV 111 „Was mein Gott will, das g’scheh allzeit"
BWV 144 „Nimm, was dein ist, und gehe hin"
Wenn mein Stündlein vorhanden ist: 313
BWV 31 „Der Himmel lacht! die Erde jubilieret"
BWV 95 „Christus, der ist mein Leben"
Wer nur den lieben Gott läßt walten: 298
BWV 21 „Ich hatte viel Bekümmernis"
BWV 27 „Wer weiß, wie nahe mir mein Ende!"
BWV 84 „Ich bin vergnügt mit meinem Glücke"
BWV 88 „Siehe, ich will viel Fischer aussenden"
BWV 93 „Wer nur den lieben Gott läßt walten"
BWV 166 „Wo gehest du hin?"
BWV 179 „Siehe zu, daß deine Gottesfurcht nicht Heuchelei sei"
BWV 197 „Gott ist unsre Zuversicht"
161
Werde munter, mein Gemüte: 360
BWV 55 „Ich armer Mensch, ich Sündenknecht"
BWV 146 „Wir müssen durch viel Trübsal in das Reich Gottes eingehen"
BWV 147 „Herz und Mund und Tat und Leben"
BWV 154 „Mein liebster Jesus ist verloren"
Wie schön leuchtet der Morgenstern: 48
BWV 1 „Wie schön leuchtet der Morgenstern"
BWV 36 „Schwingt freudig euch empor"
BWV 37 „Wer da gläubet und getauft wird"
BWV 49 „Ich geh und suche mit Verlangen"
BWV 61 „Nun komm, der Heiden Heiland"
BWV 172 „Erschallet, ihr Lieder, erklinget, ihr Saiten!"
Wo Gott, der Herr, nicht bei uns hält: 193
BWV 73 „Herr, wie du willt, so schicks mit mir"
BWV 114 „Ach, lieben Christen, seid getrost"
BWV 178 „Wo Gott der Herr nicht bei uns hält"
Die mit einem Notenbeispiel versehenen Choralmelodien eignen sich
besonders gut für den Einsatz im Musikunterricht der Primarstufe,
vornehmlich im dritten und vierten Schuljahr. Da diese Choralmelodien im
Laufe der Zeit immer mehr aus dem Liedrepertoire verdrängt wurden, ist es
nun wieder an der Zeit, diese alten Schätze der Musikgeschichte wieder in
das Liedrepertoire zu integrieren. Vor allem in der christlichen Privatschule
sollte geistliche Musik einen breiten Raum einnehmen. „Betrinkt euch nicht;
das führt nur zu einem liederlichen Leben. Laßt euch vielmehr von Gottes
Heiligem Geist erfüllen. Singt miteinander Psalmen, und lobt den Herrn mit
Liedern, wie sie euch sein Geist schenkt. Singt und jubelt aus vollem
Herzen!" (Epheser 5,18-19, „Hoffnung für alle"). Lieder, die in der Schule
gesungen werden, sollten Lieder sein, die den Herrn loben, die der Geist
Gottes eingibt und die man von Herzen mitsingen kann. Die
Choralmelodien der Kantaten von Johann Sebastian Bach besitzen gerade
diese soeben aufgezählten Eigenschaften. Solche Choräle sind wie eine
162
Predigt, wie ein Reden Gottes. Sie bekunden des Herrn Gegenwart und
besingen seine Nähe. Wir lesen in der Heiligen Schrift: „[...] indem ihr
zueinander in Psalmen und Lobliedern und geistlichen Liedern redet und
dem Herrn mit eurem Herzen singt und spielt!" (Epheser 5,19, „Elberfelder
Übersetzung"). Geistliche Lieder, die man singt oder gesungen werden sind
ein Reden. Über den großen levitischen Chor unter David heißt es: „Und
David und die Obersten des Heeres sonderten die Söhne Asafs und Hemans
und Jedutuns zum Dienst aus, die auf Zithern und auf Harfen und auf
Zimbeln geisterfüllt spielten" (1. Chronik 25,1). Oder: „Und David samt den
Heerführern sonderte von den Söhnen Asaphs, [...] solche zum Dienste aus,
welche weissagten zum Harfen-, Psalter- und Zimbelspiel" (1. Chronik 25,1,
„Alte Elberfelder Übersetzung" und „Schlachter-Übersetzung"). Luther
übersetzt: „prophetische Männer." Was ist weissagen? „Wer aber weissagt,
redet zu den Menschen (zur) Erbauung (im Glauben zu wachsen) und
Ermahnung und Tröstung" (1. Korinther 14,3). Die Psalmen, die ja
hauptsächlich Lieder sind, bestehen aus wunderbaren Botschaften. Einige
Beispiele: „[...] ein Herz dichtet ein feines Lied; was ich sage, ist für den
König bestimmt, meine Zunge ist der Griffel eines fertigen Schreibers"
(Psalm 45,2, „Schlachter-Übersetzung"). „Er gab mir ein neues Lied in
meinen Mund, einen Lobgesang für unseren Gott. Das werden viele Leute
hören, sie werden den Herrn wieder achten und ihm vertrauen" (Psalm 40,4,
„Hoffnung für alle"). „Du bist doch der heilige Gott! Dein Volk Israel lobt
dich mit seinen Liedern" (Psalm 22,4, „Hoffnung für alle"). Der Psalm 22
ist ja der Kreuzespsalm, den der Herr Jesus wahrscheinlich ganz am Kreuz
betete. Wir sehen also anhand dieser Beispiele, daß geistliche Lieder
Botschaften beinhalten, die den heiligen Gott ehren und loben, die seine
Gegenwart und Nähe verkündigen und die Zuhörer aufbauen, ermahnen und
trösten sollen. Vor allem als Kinder Gottes sollten Lehrer darauf bedacht
sein, daß die Lieder geistlich sind – mit Geist erfüllt und voll Geistes
vorgetragen werden. Hier sei noch einmal Epheser 5,19 („SchlachterÜbersetzung")
erwähnt, wo es heißt: „[...] und redet miteinander in Psalmen
und Lobgesängen und geistlichen Liedern und singet und spielet dem Herrn
in eurem Herzen [...]" und in der Parallelstelle Kolosser 3,16 („Elberfelder
Übersetzung"): „Das Wort des Christus wohne reichlich in euch; in aller
163
Weisheit lehrt und ermahnt euch gegenseitig! Mit Psalmen, Lobliedern und
geistlichen Liedern singt Gott in euren Herzen in Gnade!" In der
Übersetzung „Hoffnung für alle" wird dieser Vers so übersetzt: „Laßt das
Wort Christi seinen ganzen Reichtum bei euch entfalten. Achtet darauf, daß
es bei euch richtig verkündigt und verstanden wird. Ermutigt und ermahnt
euch gegenseitig, und dankt Gott von ganzem Herzen mit Psalmen,
Lobgesängen und Liedern, die euch der Heilige Geist schenkt. Ihr habt doch
Gottes Gnade erfahren!" Geistliche Lieder enthalten also eine Botschaft und
das erste Ziel ist das Lob Gottes und das der christliche Mensch geistlich
auferbaut und im Glauben weitergeführt wird. Geistliche Lieder haben nicht
den Sinn, daß man sich an ihren Melodien oder Rhythmen berauscht.
Eine weitere Zielsetzung beim Singen von Chorälen ist die, daß „den
Kindern im Laufe der Grundschulzeit viele Lieder" vermittelt werden
sollen, „sowohl solche, die durch schlichtes Vor- und Nachsingen zu
erlernen sind, als auch solche, die Gegenstand einer breiter angelegten
Unterrichtsarbeit sind"140. „Wechselnde Methoden der Vermittlung führen
zu einem lebendigen, tätigen Umgehen mit dem Lied (z.B. Vor- und
Nachsingen; Lieder von Tonträgern hören und mitsingen; Details
vorausgehend erarbeiten: Rhythmus, Text, Melodie, Refrain; Orientierung
am Notenbild)."141
Die ausgewählten, mit einem Notenbeispiel versehenen, Choralmelodien
sind deshalb gut geeignet, da sie musikalisch und textlich am ehesten
altersadäquat im Unterricht der Primarstufe eingesetzt werden können.
140 Richtlinien und Lehrpläne für die Grundschule, Musik. Runderlaß des Kultusministers
des Landes Nordrhein-Westfalen, Köln 1985, S. 22.
141 ebd., S. 22.
164
8. Das Weihnachtsoratorium J. S. Bachs in der
Grundschule
Drei mögliche Unterrichtssequenzen sollen veranschaulichen, wie das
Weihnachtsoratorium von Johann Sebastian Bach im Unterricht der
Primarstufe christlicher Privatschulen behandelt werden kann:
1. Möglichkeit:
In zahllosen Kirchen, Konzertsälen und Wohnzimmern auf der ganzen Welt
erklingt um die Weihnachtszeit das Weihnachtsoratorium von Johann
Sebastian Bach. Für viele Leute ist es die schönste aller
Weihnachtsmusiken. Dabei sind die bekanntesten Teile ursprünglich zu
ganz anderen Anlässen komponiert und aufgeführt worden, nämlich zu
Geburtstagsfeierlichkeiten für die Kurfürstin und den Kurprinzen von
Sachsen.
X: Moment mal! Soll das etwa heißen, daß die gleiche Musik im Schloß und
in der Kirche aufgeführt wurde?
Y: Ja, nur mit einem anderen Text.
X: Und darüber hat sich niemand beschwert?
Y: Nein. Warum auch? Weihnachten ist doch schließlich auch ein
Geburtstag; der Geburtstag Christi nämlich – und nicht, wie es heute
aussieht, ein rührseliges Fest mit Glöckchenklang und „Stille Nacht" und
behängten Tannenbäumen.
X: Ja schon. Aber der Geburtstag eines Fürsten und der Geburtstag Christi –
ich weiß nicht, das ist doch etwas ganz anderes.
Y: Für Bach und seine Zeitgenossen nicht. Sie sahen in einem weltlichen
Herrscher das Abbild des göttlichen Herrschers. Beiden hatte man den
gleichen Gehorsam, den gleichen Respekt, die gleiche Ehrfurcht zu
erweisen. Warum sollte man sie nicht mit der gleichen Musik ehren?
Das Weihnachtsoratorium besteht aus sechs Teilen; genauer gesagt: aus
sechs Kantaten, die folgenden Tagen zugeordnet sind:
Erster Weihnachtsfeiertag
Zweiter Weihnachtsfeiertag
Dritter Weihnachtsfeiertag
165
Neujahr
Sonntag nach Neujahr
Erscheinung Christi (Dreikönige)
In dieser Abfolge wurden die sechs Kantaten unter Bachs Leitung 1734/35
zum erstenmal aufgeführt. Auch heute ist das Oratorium als Ganzes (es
dauert insgesamt fast drei Stunden) nur selten zu hören. In Konzerten und
Rundfunk- oder Fernsehsendungen wird es meistens auf zwei
Aufführungstermine verteilt.
Zum Kennenlernen beschränken wir uns auf einige Ausschnitte aus dem
ersten Teil des Weihnachtsoratoriums, also aus der Kantate zum Ersten
Weihnachtsfeiertag.
Wichtige Begriffe sollten auch hier wieder im Vorfeld erklärt werden:
Oratorium = umfangreiches Werk mit Chor, Orchester und Solisten.
Aufführungsdauer: mehrere Stunden. Den meisten Oratorien liegt eine
biblische Geschichte oder ein geistlicher Text zugrunde.
Kantate = kürzeres Werk für Gesang und Instrumente (ital./lat. „cantare" =
singen). Aufführungsdauer: etwa 30 Minuten. Der Text kann weltlich (z.B.
Geburtstagskantate) oder geistlich sein (Kirchenkantate). (s. 7.)
Rezitativ = Sprechgesang; von einem Solisten gesungene Erzählung.
Arie = liedhafter Sologesang mit betrachtendem Charakter.
Erster Ausschnitt: Eingangschor „Jauchzet, frohlocket"
Pauken und Trompeten, von jeher Symbole königlicher Macht und
Herrlichkeit, künden von der Freude über die Geburt des Herrn. In den Jubel
des Orchesters stimmt auch der Chor ein:
A Jauchzet, frohlocket! Auf, preiset die Tage,
Rühmet, was heute der Höchste getan!
B Lasset das Zagen, verbannet die Klage,
Stimmet voll Jauchzen und Fröhlichkeit an!
C Dienet dem Höchsten mit herrlichen Chören,
Laßt uns den Namen des Herrschers verehren!
Der Chor will uns alle einladen, die Freude mit ihm zu teilen. Immer wieder
wendet er sich mit den gleichen Worten, mit den gleichen Aufforderungen
an die Zuhörer.
166
Bach vertont den Text also nicht, wie er dasteht: Wort für Wort und schön
der Reihe nach; sondern er behandelt ihn völlig frei. Einzelne Wörter oder
Satzteile oder ganze Satzteile oder ganze Sätze werden herausgelöst,
wiederholt, neu zusammengesetzt, kontrapunktisch miteinander verquirlt
und verzwirnt. Das folgende Notenbeispiel zeigt, daß zur gleichen Zeit in
jeder Stimme eine andere Silbe erklingt.
Es ist daher für den Zuhörer nicht immer leicht, den Text zu verstehen und
mitzulesen. An sich ist das auch nicht schlimm; denn die frohe Stimmung
soll ja vor allem von der Musik ausgehen. Trotzdem wollen wir’s
versuchen, um Bach noch von einer anderen Seite kennenzulernen: als
Musik-Architekten. Diese Musik ist nämlich nach einem genau
durchdachten Plan gebaut – wie ein Haus oder Schloß. Dabei wollen wir gar
nicht so sehr ins einzelne gehen; es genügt, wenn wir uns auf die großen
Bauteile konzentrieren, die mit A, B, C gekennzeichnet sind.
Zweiter Ausschnitt: Rezitative „Es begab sich aber zu der Zeit" und
„Nun wird mein liebster Bräutigam"
Nach dem jubelnden Eingangschor beginnt der Evangelist Lukas (Tenor =
hohe Männerstimme), die Weihnachtsgeschichte vorzutragen: „Es begab
sich aber zu der Zeit [...]". Diese Erzählung wird ebenfalls gesungen, aber
ganz anders als im ersten Ausschnitt:
- Man versteht jedes Wort.
- Nur ein Sänger singt.
- Kein Wort wird wiederholt und umgestellt.
- Der Gesang wird nur mit wenigen Akkorden von der Orgel (oder dem
Cembalo) und einem Baßinstrument begleitet, der sogenannten
Continuo-Gruppe.
- Der Gesang paßt sich genau dem Rhythmus des Textes an.
Rezitativ nennt man diese Art des Vortrags.
Zum Nachdenken könnte der Lehrer den Schülern zwischen den einzelnen
Erklärungsabschnitten folgenden Impuls geben: „Könnt ihr euch denken,
warum dieser Abschnitt nicht vom Chor gesungen wird und warum Bach
hier die Form des Rezitativs wählt?" Falls die Schüler auf keine geeignete
Antwort kämen, könnte diese wie folgt aussehen: „Dafür gibt es mehrere
167
Gründe. Erstens kommt es hier darauf an, daß der Hörer jedes Wort
versteht. Der Text ist also wichtiger als die Musik (beim Eingangschor war
es umgekehrt). Zweitens wäre es unlogisch, die Einzelperson des
Evangelisten durch einen Chor darstellen zu lassen. Drittens: Der Text des
Evangeliums ist heilig. Er darf nicht verändert werden, auch nicht durch
Wortwiederholungen oder –umstellungen."
Fast unmerklich geht der Bericht des Evangelisten über in ein betrachtendes
Gebet. Doch es ist nicht mehr der Evangelist (Tenor), der da singt, sondern
eine Altstimme (= tiefe Frauen- oder Knabenstimme). Sie gibt die innigen
Gedanken einer gottesfürchtigen Seele wieder, die sich auf die Ankunft des
„Bräutigams" und auf die Vermählung mit ihm vorbereitet. Die Liebe
zwischen Bräutigam und Braut wird in der Bibel, aber auch in
Kirchenliedern öfter als Vergleich für den Bund zwischen Gott und seinem
Volk herangezogen.
Zu der Altstimme gesellen sich jetzt auch zwei Oboen d’amore – wörtlich
übersetzt: Liebesoboen; sie haben einen besonders zarten, lieblichen Klang.
Den Schülern wird nun der Hörauftrag erteilt, sich die Rezitative anzuhören
und den Text zu verfolgen:
Evangelium: Es begab sich aber zu der Zeit, daß ein Gebot von dem Kaiser
Augusto ausging, daß alle Welt geschätzet würde. Und
jedermann ging, daß er sich schätzen ließe, ein jeglicher in
seine Stadt. Da machte sich auch auf Joseph aus Galiläa, aus
der Stadt Nazareth, in das jüdische Land zur Stadt Davids,
die da heißet Bethlehem; darum daß er von dem Hause und
Geschlechte David war: auf daß er sich schätzen ließe mit
Maria, seinem vertrauten Weibe, die war schwanger. Und als
sie daselbst waren, kam die Zeit, daß sie gebären sollte.
Betrachtung: Nun wird mein liebster Bräutigam,
Nun wird der Held aus Davids Stamm
Zum Trost, zum Heil der Erden
Einmal geboren werden.
Nun wird der Stern aus Jakob scheinen,
Sein Strahl bricht schon hervor.
Auf, Zion, und verlasse nun das Weinen,
168
Dein Wohl steigt hoch empor!
Dritter Ausschnitt: Arie (Alt) „Bereite dich, Zion"
Das Rezitativ „Nun wird mein liebster Bräutigam [...]" war nur der Anfang
des betrachtenden Gebets. Es wird nun von der gleichen Altstimme
fortgesetzt mit einer Arie, einem liedhaften Gesang.
Betrachtung: Bereite dich, Zion, mit zärtlichen Trieben
(Fortsetzung) Den Schönsten, den Liebsten bald bei dir zu sehn!
Deine Wangen müssen heut viel schöner prangen,
Eile, den Bräutigam sehnlich zu lieben!
Wenig Worte und viel Musik. Wieder geht Bach mit dem Text sehr frei um,
ähnlich wie im Eingangschor. Das kann er auch, denn es ist schließlich kein
Evangelium, sondern freie Dichtung. (Der Dichter heißt wahrscheinlich
Picander; er hat viele Kantatentexte für Bach geschrieben.) Bach gestaltet
diese Arie zu einem Zwiegespräch zwischen der Altstimme und einer
Instrumentalstimme. Die Instrumentalstimme wird von zwei Instrumenten
gemeinsam ausgeführt, nämlich von einer Violine und einer Oboe d’amore.
(Die Oboe d’amore klingt jedoch so leise, daß man sie kaum hört.)
An dieser Stelle ist es angebracht, den Schülern folgende Frage zu stellen:
„Die Arie hat einen ähnlichen Aufbau wie der Eingangschor. Aber der Text
besteht in diesem Fall nur aus zwei Zeilenpaaren. Was meinst du: Wie läßt
sich daraus eine dreiteilige Form machen? Ob deine Vermutung stimmt,
kannst du selbst überprüfen, wenn du die Arie hörst." Falls die Schüler auf
keine Lösung kommen sollten, wäre folgende Erklärung des Lehrers
denkbar: „Die Arie hat die Form A B A; das heißt, nachdem die vier Zeilen
durchkomponiert sind, werden die ersten beiden nochmal wiederholt. In den
Noten stehen am Ende des B-Teils die Buchstaben D.C. als Kürzel für
Da Capo, zu deutsch: noch mal von vorn (bis zum Beginn des B-Teils).
Dieser Formtyp, auch Da-Capo-Form genannt, kommt in der Musik sehr
häufig vor." Nachdem nun die Schüler die Arie gehört haben und die
Erklärung auf die obige Frage erfolgt ist, wäre es durchaus angebracht, die
emotionale Seite der Schüler anzusprechen: „Wie würdest du die Stimmung
dieser Arie beschreiben? (Es muß nicht jeder das gleiche empfinden.)" Die
169
Schüler tauschen jetzt also ihre Empfindungen aus, die sie beim Hören
dieser Arie entwickelt haben.
Vierter Ausschnitt: Choral „Wie soll ich dich empfangen"
Der Bericht des Evangelisten, das betrachtende Gebet und der nun folgende
Choral bilden zusammen eine szenische Einheit. Man könnte sie mit der
Überschrift versehen „Warten auf die Geburt des Herrn". Der Choral wird
vom Chor gesungen, stellvertretend für die ganze Gemeinde, ja für die
ganze Christenheit. Sie drückt ihre Erwartung, ihre Sehnsucht, aber auch
ihre Demut und Furchtsamkeit mit den Worten aus:
Wie soll ich dich empfangen,
Und wie begegn’ ich dir?
O aller Welt Verlangen,
O meiner Seelen Zier!
O Jesu, Jesu, setze
Mir selbst die Fackel bei,
Damit, was dich ergötze,
Mir kund und wissend sei.
Die Melodie des Chorals ist euch vielleicht besser als Passionslied bekannt
(„O Haupt, voll Blut und Wunden"). Aber zu Bachs Zeit wurde sie auch als
Adventslied gesungen.
Die Schüler hören nun den Choral „Wie soll ich dich empfangen".
Fünfter Ausschnitt: Choral „Ach mein herzliebes Jesulein"
Die nächste Szene könnte man überschreiben: „Der Heiland ist geboren".
Wir wollen uns davon nur den Schluß anhören. Es ist zugleich der Schluß
der Kantate zum Ersten Weihnachtsfeiertag. Wieder singt der Chor. Diesmal
aber ein echtes Weihnachtslied: „Vom Himmel hoch, da komm ich her".
Bach wählt die 13. Strophe:
Ach mein herzliebes Jesulein,
Mach dir ein rein sanft Bettelein,
Zu ruhn in meines Herzens Schrein,
Daß ich nimmer vergesse dein.
170
Eine besonders zarte Strophe. Doch es herrscht die gleiche Freuden-
stimmung wie beim Eingangschor.
Die Schüler hören nun den Choral „Ach mein herzliebes Jesulein".
Anschließend könnte den Schülern folgende Frage gestellt werden: „Text
und Musik passen offensichtlich nicht so recht zusammen. Was könnte sich
Bach bei der Wahl der Instrumente gedacht haben?" Die Antwort auf diese
Frage wäre dann: „Durch Pauken und Trompeten wollte Bach deutlich
machen, daß hier eben nicht nur das „herzliebe Jesulein" in der Krippe liegt,
sondern der Herrscher der Welt, der „König aller Königreich" – wie es in
einem bekannten Kirchenlied heißt." Eine letzte Frage an die Schüler würde
schließlich die Unterrichtssequenz abrunden: „Wie empfindest du den
Stimmungsverlauf vom ersten bis zum fünften Ausschnitt?" Eine mögliche
Antwort auf diese Frage wäre folgende: „Zum Stimmungsverlauf dieser
Weihnachtskantate:
I. Eingangschor: Überschwengliche Weihnachtsfreude.
II. Rückblende (2 Rezitative und eine Arie): Warten auf die Geburt des
Herrn. Besinnliche Stimmung, Sehnsucht, bange Erwartung.
III. Schlußchor: Der Heiland ist geboren. Wieder die gleiche
Weihnachtsfreude wie zu Anfang."
2. Möglichkeit:
Die Überschrift dieser Unterrichtssequenz könnte folgenden Wortlaut
haben: „Aus der Weihnachtsgeschichte: Die biblische Geschichte als
Konzertmusik".142 Folgender Text sei den Schülern vorgegeben: Viele
Leute hören um die Weihnachtszeit ein Werk von Johann Sebastian Bach.
Im Mittelpunkt steht die Geschichte von der Geburt Christi, wie sie in der
Bibel erzählt wird. Den wörtlichen Bibeltext singt der Evangelist. Texte
zum Nachdenken über die Bibelworte tragen einzelne Sänger (Solisten) vor.
Weihnachtslieder, wie ihr sie auch kennt, werden vom Chor gesungen.
Heute kann man diese Musik nicht nur in der Kirche hören. Manche Leute
kennen sie von Schallplatten oder von einer Sendung im Radio oder einer
Aufführung im Konzertsaal:
142 Peter Fuchs/Willi Gundlach/Verlagsredaktion Grundschule, Unser Musikbuch für die
Grundschule – Dudelsack, Stuttgart 1976, S. 80.
171
Johann Sebastian Bach: Weihnachtsoratorium für Solisten, Chor und
Orchester.
1. Teil: Am ersten Weihnachtsfeiertag
2. Teil: Am zweiten Weihnachtsfeiertag
3. Teil: Am dritten Weihnachtsfeiertag
4. Teil: Am Neujahrstage
5. Teil: Am Sonntage nach Neujahr
6. Teil: Am Feste der Erscheinung Christi
Weihnachtsoratorium 1. Teil:
Nr. 1. Chor (Sopran, Alt, Tenor, Baß)
„Jauchzet, frohlocket"
Nr. 2. Rezitativ (Tenor-Solo)
„Es begab sich aber zu der Zeit"
Nr. 3. Rezitativ (Alt-Solo)
„Nun wird mein liebster Bräutigam"
Nr. 4. Arie (Alt-Solo)
„Bereite dich, Zion"
Nr. 5. Choral (Sopran, Alt, Tenor, Baß)
„Wie soll ich dich empfangen"
Nr. 6. Rezitativ (Tenor-Solo)
„Und sie gebar ihren ersten Sohn"
Nr. 7. Choral (Sopran und Baß-Solostimme)
„Er ist auf Erden kommen arm"
Nr. 8. Arie (Baß-Solo)
„Großer Herr und starker König"
Nr. 9. Choral (Sopran, Alt, Tenor, Baß)
„Ach mein herzliebes Jesulein"
Nr. 8
Arie für eine Baßstimme, Solo-Trompete und Orchester „Großer Herr und
starker König, liebster Heiland, o wie wenig achtest du der Erden Pracht!"
In dieser Arie wird der neugeborene Heiland schon als König besungen. Die
172
Musik drückt das so aus: Es spielt eine Trompete, das Instrument der
Könige.
Nr. 9
Choral für Frauen- und Männerstimmen mit Orchester, Solotrompeten und
Pauken „Ach mein herzliebes Jesulein! Mach dir ein rein sanft Bettelein, zu
ruhn in meines Herzens Schrein, daß ich nimmer vergesse dein."
Das Rezitativ ist ein Sprechgesang (halb sprechen, halb singen). Der Sänger
erzählt die Geschichte im Tonfall der Sprache. Ein Instrument unterstützt
ihn bei seiner Erzählung.
In einer Arie gehören zu einem Text besonders kunstvolle Melodien mit
Verzierungen. Oft kann man den Text gar nicht mehr verstehen, weil auf
eine Silbe viele Töne gesungen werden.
Die Choräle im Weihnachtsoratorium sind mehrstimmig. Sie werden vom
Chor gesungen und mit einem großen Orchester begleitet. Sie haben
einfache Melodien und Texte, wie sie die ganze Gemeinde in der Kirche oft
singt.
Ziele – Unterrichtsschwerpunkte:
Inhalte der Weihnachtsgeschichte werden mit komplexeren musikalischen
Mitteln dargestellt. Verschiedenartige Texte sind mit verschiedenen
Gesangsformen dargestellt:
- erzählende Texte im Rezitativ,
- Texte, die zum Nachdenken über die Geschichte anregen, in einer Arie,
- Lieder, die gemeinsam mit Orchesterbegleitung gesungen werden, als
Choral.
Die einzelnen Teile werden in den Zusammenhang des großen Werkes
gestellt, damit den Kindern ein solches Werk in Umrissen sichtbar wird.
Die Materialien:
Der einleitende Text hat die Funktion, einen ersten Bezug zwischen der
Geschichte und dem musikalischen Werk herzustellen und aufzuzeigen, in
welcher Weise eine solche „Konzertmusik" auch den Kindern zugänglich
173
ist. Anhand der weiteren Materialien kann man Einzelteile des Werkes
näher kennenlernen und sie mit dem Gesamtwerk in Verbindung bringen.
Das kann z.B. in drei Schritten geschehen:
1. Der Gesamtzusammenhang
Das Werk war ursprünglich nicht für eine Aufführung im ganzen gedacht.
Es besteht aus sechs Kantaten (Teilen), die an jeweils verschiedenen Tagen
der Festzeit im Gottesdienst erklangen. Die Tabelle oben zeigt dies im
einzelnen.
2. Überblick über den ersten Teil des Weihnachtsoratoriums
Damit kann die Vielgestaltigkeit der Formen im Weihnachtsoratorium
zumindest angedeutet werden. Dies wird man unterrichtlich natürlich nicht
im einzelnen durcharbeiten; denn dafür würden in mancherlei Hinsicht die
Voraussetzungen fehlen. An einzelne Schlüsselworte kann man aber – je
nach der Situation – durchaus anknüpfen, z.B. Chor, Choral, Solo etc.
3. Materialien zum Kennenlernen einzelner Teile
Hier werden drei Einzelsätze aus der ersten Kantate genauer vorgestellt.
Dabei wurden solche ausgewählt, die einerseits den Kindern zugänglich
sind – vom Text wie von der Musik her -, die andererseits für das
Weihnachtsoratorium wie für Bachs Musik überhaupt charakteristisch sind.
- Das Rezitativ Nr. 6 erscheint deshalb besonders geeignet, weil hier eine
bekannte Stelle der Weihnachtsgeschichte auf knappstem Raum
dargestellt wird. Das Rezitativ ist Träger der Erzählung. Die
musikalische Gestaltung richtet sich weitgehend nach dem Text und
seinem Rhythmus. Der Text muß so deutlich wie möglich zur Geltung
kommen, er wird „erzählt". Die Begleitung mit einem Tasteninstrument
und einem Baßinstrument unterstützt den Erzähler, sie ordnet sich
seinem Vortrag völlig unter. Da der Erzähler die Worte des Evangeliums
vorträgt, heißt er auch „Evangelist".
- Die Arie gehorcht ganz anderen Gesetzen. Hier wird nicht eine
Geschichte mit viel Text erzählt, sondern ein bestimmter Gedanke, der
dem Komponisten im Zusammenhang der Weihnachtsgeschichte
besonders wichtig erscheint, wird herausgehoben und mit musikalischen
174
Mitteln eindringlich dargestellt. Dieser Arie liegt folgender Gedanke
zugrunde: Bereits im Augenblick der Geburt Jesu wird seine eigentliche
Bestimmung gesehen. Jesus ist der „große Herr und starke König".
Diese Aussage steht in starkem Kontrast zu der Aussage im Rezitativ, es
ist die Aussage von der Geburt Jesu in den ärmlichsten Verhältnissen als
schwaches hilfloses Kind.
Die Trompete ist für die Darstellung des „Königsgedankens" besonders
gut geeignet, denn sie galt zu Bachs Zeiten als Instrument der Könige.
Ihr strahlender Klangcharakter wird besonders zur Geltung gebracht
durch die fanfarenartige Dreiklangsmelodik. Diese wird auch vom
Sänger aufgegriffen.
Die Arie ist dreiteilig aufgebaut nach dem Schema A B A, d.h. nach
einem Mittelteil kehrt der erste Teil unverändert wieder.
A Großer Herr und starker König,
liebster Heiland, o wie wenig
achtest du der Erden Pracht!
B Der die ganze Welt erhält,
ihre Pracht und Zier erschaffen,
muß in harten Krippen schlafen.
A Großer Herr [...]
- Der Choral wird auf die Melodie des Liedes „Vom Himmel hoch"
gesungen. Inhaltlich verbindet er das Motiv des neugeborenen
Kindeleins „Ach mein herzliebes Jesulein" mit dem des Königs. Die
musikalische Darstellung des Herrschergedankens wird noch verstärkt,
weil zu den drei Trompeten noch die Pauke dazutritt.
Die musikalische Form des Chorals ist sehr sinnfällig: Zwischen jede
Choralzeile schiebt sich ein kurzes Zwischenspiel von Trompeten und
Pauken. Dadurch erhält das Ganze einen festlichen hymnischen
Charakter. Dieser Choral beschließt den ersten Teil des
Weihnachtsoratoriums.
Unterrichtsgestaltung:
Die im Vorangegangenen dargestellten Ziele und Unterrichtsschwerpunkte
lassen sich im 4. Schuljahr behandeln.
175
Folgende Möglichkeiten der Erarbeitung bieten sich an:
1. Zugang zu Einzelheiten anbahnen
Bei dem Choral wäre es sinnvoll, die Melodie zu singen, den Text zu lesen
und zu besprechen, ein entsprechendes Tonbeispiel zu hören, den Aufbau zu
erkennen, in dem man z.B. ein Schema während des Hörens gemeinsam
entwickelt oder es zum Mitlesen während des Hörens an der Tafel vorgibt.
2. Einordnen der Einzelteile (Sätze des Werkes) in größere Zusammenhänge
- Wo finden sich die drei abgedruckten Sätze im Inhaltsverzeichnis des
Weihnachtsoratoriums 1. Teil?
- Welche weiteren Choräle, Arien und Rezitative gibt es dort? – Welche
näheren Angaben sind gemacht?
- Wo wird das Weihnachtsoratorium oder Teile davon in eurer Umgebung
aufgeführt?
- Wie wird es angekündigt?
- Wann wird es im Radio oder im Fernsehen gesendet?
3. Eine Behandlung der Arie läßt sich aus den Informationen zu den
Materialien ableiten.
4. Wenn in einem Ort das Weihnachtsoratorium oder Teile davon
tatsächlich aufgeführt werden sollten, lassen sich die Erkundungen über eine
Aufführung erweitern, z.B. über die verschiedenen Beteiligten (Chor,
Orchester und Solisten), über die verschiedenen Ankündigungsmöglich-
keiten.
3. Möglichkeit:
Die Überschrift dieser Unterrichtssequenz lautet: „Weihnachtsmusik –
Johann Sebastian Bach – Weihnachtsoratorium für Solisten, Chor und
Orchester".143 Im Schülerband befindet sich z.B. eine Sprechblase mit
folgendem Text: „Ich finde das merkwürdig: Manchmal heißt es in den
143 Peter Fuchs/Hermann Große-Jäger/Willi Gundlach/Verlagsredaktion Grundschule,
Quartett 4 – Unser Musikbuch für die Grundschule, Stuttgart 1990, S. 18.
176
Liedern ‚Großer Herr‘ und manchmal ‚Jesulein‘." Weiterhin abgedruckt
sind die Arie „Großer Herr und starker König, liebster Heiland, o wie wenig
achtest du der Erden Pracht!", der Choral „Ach mein herzliebes Jesulein!
Mach dir ein rein sanft Bettelein, zu ruhn in meines Herzens Schrein, daß
ich nimmer vergesse dein.", ein „Walroßbeinrelief aus dem 12.
Jahrhundert", ein Notenbeispiel zum Choral, ein kleines Foto, auf dem u.a.
ein Solist (Baß) abgebildet ist und ein größeres Foto, auf dem Solisten, Chor
und Orchester abgebildet sind.
Thematischer Ansatz und Funktion der Materialien:
So wie Lied- und Textdichter sich mit dem Weihnachtsgeschehen
auseinandergesetzt haben, so haben namhafte Komponisten wie Bach und
Händel auch in großen Werken – sogenannten „Oratorien" – die
Weihnachtsgeschichte dargestellt. Diese Werke enthalten nicht nur die
Erzählung des weihnachtlichen Geschehens, sondern es finden sich dort
auch Gebete, Loblieder, Gedanken der Menschen über das, was geschehen
ist.
Die beiden ausgewählten Teile aus dem Weihnachtsoratorium von Johann
Sebastian Bach sind solche Gebete, Lobgesänge sowohl an den „Großen
Herrn und starken König" als auch an das Kind, das „Jesulein", den
menschgewordenen Gottessohn. Die Weihnachtsgeschichte ist der Erlebnis-
und Erfahrungshintergrund für ein altersangemessenes Verstehen der
Musikbeispiele.
Das Weihnachtsbild im Schülerbuch (Walroßbeinrelief aus dem 12.
Jahrhundert) ist Anlaß, sich die Weihnachtsgeschichte in Erinnerung zu
rufen und einige wichtige Aussagen deutlich zu machen:
- Das Kind in der Mitte des Bildes – in Windeln gewickelt, mit einem
Heiligenschein, liegend auf einer Art Altar – deutet darauf hin, daß
dieses Kind Gottes Sohn ist.
- Maria und Josef sitzen zu beiden Seiten des Kindes. Sie schauen es nicht
an, sind ihm aber schützend zugewandt.
- Ochs und Esel schauen durch zwei Fenster auf das Kind.
- Die Geburtsszene ist auf diesem Bild nicht im Krippenstall dargestellt,
sondern wird von den Mauern und acht Türmen der Stadt Davids
177
(Jerusalem) umgeben. Alle diese Zeichen, auch der achtstrahlige
Davidsstern, weisen darauf hin, daß das Jesuskind aus dem
Königsgeschlecht des David stammt und selbst ein König ist.
- Außerhalb der Stadt sind die Hirten zu sehen, wie sie der Botschaft der
Engel zuhören. Die Engel fliegen über der Stadt und wenden sich dem
Kinde anbetend zu, wie es Maria und Josef, Ochs und Esel auch tun.
Die Bildaussage „Das Jesuskind als König" ist der Ansatz für das, was der
Komponist Johann Sebastian Bach in seinem Werk mit musikalischen
Mitteln ausdrückt.
Das Tonbeispiel mit der Bearbeitung des berühmten Chorals „Ach mein
herzliebes Jesulein" (mit der Melodie „Vom Himmel hoch, da komm ich
her") erschließt sich dem Verständnis, wenn man weiß, warum die
Choralmelodie immer wieder vom Trompetenchor (drei Trompeten und
Pauken) unterbrochen wird. Trompeten waren in jener Zeit die Instrumente
der Könige. Damit wird unüberhörbar darauf hingewiesen, daß das
„herzliebe Jesulein" der künftige König ist. Die vorhergehende Arie
unterstreicht diesen Gedanken durch die Worte „Großer Herr und starker
König", sowie auch durch die glanzvolle Solotrompete.
Das Notenbeispiel zum Choral zeigt zum einen den Wechsel von Chor und
Instrumentalzwischenspielen (Trompeten und Pauken) und damit den
Formaufbau des Stückes.
Zum anderen können die Schüler die vertraute Melodie des Liedes „Vom
Himmel hoch" erkennen, beim Hören mitverfolgen und den Text des
Chorals den Melodieteilen zuordnen.
Die Beschäftigung mit einem solchen Werk stellt aber auch eine Einführung
in das Musikleben dar, denn diese Musik hat einen bestimmten Platz in
unserer Welt, sie erklingt zu bestimmten Zeiten an bestimmten Orten, wird
von bestimmten Leuten bevorzugt usw.
Das größere Foto auf der linken Seite zeigt ein Ensemble bei der Darbietung
des Weihnachtsoratoriums in einer Kirche. Wir sehen den gemischten Chor,
das Orchester, den Dirigenten und die Solisten. Letztere sind hier schwer zu
178
erkennen, weil sie in der ersten Reihe vor den Zuhörern sitzen, während
Chor und Orchester den Choral musizieren. Das kleinere Foto gibt einen
Ausschnitt: Der Baßsolist singt die Arie „Großer Herr", während der
Solotrompeter, der im Hintergrund zu erkennen ist, gerade einige Takte
pausiert; er hat sein Instrument sinken lassen.
Zum Unterricht:
1. Arie und Choral aus dem „Weihnachtsoratorium":
Während des adventlichen Singens, vielleicht auch im Religionsunterricht,
sollte das Lied „Vom Himmel hoch, da komm ich her" gesungen und allen
Kindern vertrautgemacht werden; es ist in der jüngsten Generation durchaus
nicht so bekannt wie bei den älteren.
Unterrichtsschritte:
- Mit Hilfe der Bildbetrachtung sich das Weihnachtsgeschehen in
Erinnerung rufen und die Gedanken hervorheben, die zum Verstehen der
Musikbeispiele führen (siehe auch obige Bildbeschreibung).
- Das Musikbeispiel (Arie und Choral) anhören und auf der
Schülerbuchseite beide Texte mitlesen.
- Ein Gespräch führen über das, was besonders wahrgenommen wurde,
zum Beispiel: Die Melodie des Liedes „Vom Himmel hoch", dabei
erklären, daß Choralmelodien oft mit verschiedenen Texten versehen
werden.
- Die besonders hervorstechenden Instrumente (Trompeten, Pauken)
benennen; die Bedeutung dieser Instrumente herausstellen:
musikalisches Zeichen für Festlichkeit und Königtum.
- Notation einbeziehen, mitsingen und –spielen
Während des nochmaligen Hörens im Notenbeispiel mitlesen. Die
Melodie („Vom Himmel hoch") mitsummen.
In den Zwischenteilen mitspielen, was von den Pauken zu hören ist (sehr
leise mit den Fäusten auf dem Tisch, mit zwei gestreckten Fingern auf
der Handtrommel).
Die Textzeilen („Ach mein herzliebes Jesulein") den Melodie-
abschnitten zuordnen und den Choral mitsingen.
179
- Etwas zur Aufführung erfahren
Auf die Frage „Wer singt, wer spielt das ‚Weihnachtsoratorium‘?" Fotos
und Angaben wie Solist, Chor, Kirchenmusik/Konzertmusik erkunden.
Dabei Begriffe herausstellen und ordnen, u.a. auch die Bezeichnungen
der Stimmgattungen:
Sopran: hohe Frauenstimme
Alt: tiefe Frauenstimme
Tenor: hohe Männerstimme
Baß: tiefe Männerstimme.
Was erfahren und gelernt wird:
- Kennenlernen, wie Musik die Weihnachtsbotschaft übermittelt.
- Einen mehrstimmigen Choral mit Zwischenspielen bewußt hören, seine
Aussage und seinen formalen Aufbau verstehen.
- Einer Arie zuhören, den Text verfolgen, das Soloinstrument erkennen
und in seiner Funktion verstehen.
- Musikalische Begriffe kennenlernen: Arie, Choral, Solist, Chor,
Orchester.
- Liedmelodien in Musikwerken wiedererkennen.
180
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185
Erklärung
Ich versichere, daß ich die schriftliche Hausarbeit – einschließlich
beigefügter Zeichnungen, Kartenskizzen und Darstellungen – selbständig
verfaßt und keine anderen als die angegebenen Quellen und Hilfsmittel
benutzt habe. Alle Stellen der Arbeit, die dem Wortlaut oder dem Sinne
nach anderen Werken entnommen sind, habe ich in jedem Fall unter Angabe
der Quelle deutlich als Entlehnung kenntlich gemacht.
Gevelsberg, den 14. September 1998
Reinhard Gottheim